Weitere Bühnen werden folgen; etwa das Theater in Meiningen – auch hier ist „1000 Serpentinen Angst“ eine Art Statement des neuen Schauspiel-Direktors Frank Behnke: für die Diversität in den Lebenswelten deutscher Nachwendezeit, speziell (aber durchaus nicht nur!) im alten Osten. In Osnabrück (also in Alt-West) setzen Rebekka David und Ausstatterin Anna Maria Schories auf die Mischung von Realität und Phantasie mit forcierter Abstraktion. Und vor allem lassen sie gehörige Mengen Sand (genauer: Mais) auf die kleine Bühne im „emma“-Theater regnen. Wer sich eines der Körner heraus greift, kann daraus eine ganze Welt beschwören, wie fremd und fern auch immer die ist. In einen Automaten für Knabberkram und Getränke eingeworfen, kann sich das Maiskorn auch zum Chip verwandeln, mit dem wiederum ein kleiner Diaprojektor an der Bühnen-Rückwand in Betrieb gesetzt werden kann, der vor allem Dias aus vergangenen Zeiten und Gegenwart zeigt. Links hinten daneben glänzt gelb eine alte Telefonzelle, links vorne stehen drei Tauchsieder-Maschinen – aus dem Haushalt der familiär extrem wichtigen Oma.
Mit ihr führt das Erzähler-Ich die intensivsten Gespräche; und diese Oma steuert die mit Abstand poetischste Miniatur des Abends bei: In einem der Heißwasser-Geräte, so sagt sie, koche sie regelmäßig ihre Tränen auf… Oma übrigens ist ein Mann (Mario Lopatta), der einzige im Osnabrücker Trio. Recke in Berlin hatte ein großes Ensemble mit reichlich Statisterie in Bewegung gesetzt – Rebekka David sucht derweil die Konzentration: Lopatta ist vor allem Oma, Hannah Walter vor allem die Mutter (und ein paar Mal auch die vietnamesische Geliebte der Ich-Figur), während Otiti Engelhardt immer die junge Frau bleibt, die nach Zugehörigkeit sucht, nach dem kollektiven Ich, zu dem sie und das zu ihr „passt“. Wo immer eine „person of colour“ zum Theater-Ensemble gehört (und das ist mittlerweile vielerorts der Fall), wird Wenzels Roman in den Dramaturgien gelesen werden.
Die Suche beginnt in New York – dort fühlt sich die junge Frau zum ersten Mal wahr- und aufgenommen: in der „black community“. Sie wird nicht schief angeschaut – wie als Kind an der Seite des Bruders, der den Druck des Ausgegrenztseins nicht aushielt und sich früh das Leben nahm. Hier wird sie angelächelt, sogar mehrmals am Tag, hier fühlt sie sich beinahe zu Hause. Das ist so angenehm, dass sie alle Daten und Fakten vergisst, die vom allgegenwärtigen sozialen und ethnischen Rassismus auch in den USA heute erzählen. Dann beginnen (mit Hilfe der Maiskörner) die Erinnerungen; und mit ihr kommen Mutter und Oma ins Spiel. Die Familiengeschichte beginnt bei der Nachkriegsgewalt, die die Großmutter noch erlebte – und bei der Hoffnung, die mit der ersten Nachkriegsrepublik im Osten verbunden waren. Und sie führt zur Wahrnehmung staatlicher Willkür, als die unanpassbare Mutter eine Generation später in die Mühlen der Stasi-Verfolgung gerät. Das Ich ist ja erst 4, als all das zu Ende ist, die Echos aber unauslöschbar in den Gehirnen bohren und schmoren. Einmal blättert Oma in einem langen Monolog all die Zusammenhänge zwischen dem öffentlich-politisch-welthistorischen Leben und dem der kleinen Familie auf. Die Litanei will nicht enden. Genauso vielfältig sind die Erzähl-, genauer: die Gesprächsstränge in Roman und Aufführung.
Das Finale wirkt da nachgerade unterkomplex – Ich ist schwanger, vielleicht von einem „Henning“, vielleicht von irgendwem sonst und aus der Telefonzelle wird Kim angerufen, die gerade daheim in Vietnam ist. Wollen beide ein Kind mit zwei Müttern und ohne Vater? Am Ende ist das die Vision von Zukunft – während Oma weiter Tränen kocht.
Die Osnabrücker Fassung treibt das kleine und hoch engagierte Ensemble durchaus an die eigenen Grenzen; und im Stoff raschelt immer noch recht viel Papier. Die Mais-Abstraktion aber hilft – das Team um Rebekka David lässt ahnen, in welche Räume der Theater-Phantasie Olivia Wenzels Sehnsucht nach Zusammenhalt und Zugehörigkeit noch führen könnte.