Foto: Zum Auftakt der Saison in Luzern feiert das Theater sich selbst. © Ingo Hoehn
Text:Silja Meyer-Zurwelle, am 6. September 2021
Das Geräusch von Hufen erklingt auf Asphalt. Langsam, als wäre das Pferd schon ziemlich müde. Auf der Leinwand im Luzerner Theater erscheint ein Mann, der auf einem mit Rollen versehenen Holzpferd sitzt. Es hat weiße Flügel an den Flanken angebracht und der Reiter bewegt diese langsam auf und ab. Gerade, als sich der Zuschauer fragen muss, woher wohl das Hufgeklapper kommt, wenn das Pferd doch auf Rollen unterwegs ist, erscheint am linken, unteren Bildrand eine Frau auf allen Vieren, unter Händen und Füßen trägt sie halbe Kokosnussschalen, mit denen sie den Rhythmus der Hufe auf den Boden schlägt. Die ganze Szenerie ist so komisch, dass es aus dem Publikum nur so gluckst und kichert. Die Frau mit den provisorischen Hufen wird schneller, richtet sich auf und galoppiert geradezu, der Reiter juchzt auf, schwingt die Flügel des Holzpferdes schneller, dann wird das Hufgeklapper wieder langsamer, die Frau zieht sich zurück, die Leinwand wird schwarz.
Es sind ulkige Szenen wie diese, mit denen Regisseurin Lydia Steier und der musikalische Leiter Stefan Schreiber die Schweizer Erstaufführung von Mauricio Kagels „Staatstheater“ am Luzerner Theater eröffnen. Die Kurzfilme werden live aus drei in Luzern stehenden Containern übertragen. 19 kleine Kosmen schaffen sie damit auf der Leinwand – mal klopft sich in „Mundtrommel“ eine Frau, die mit ihrer rot-lockigen Perücke in einer Badewanne sitzend wie das Sams anmutet, mit einem Schlegel gegen eine vor die geöffneten Lippen gehaltene Plastikscheibe, mal melken zwei Darsteller, die einen Wolfs- und einen Hasenkopf tragen, eine lebensgroße Plastik-Kuh und mal setzt ein Astronaut feierlich die Schweizer Flagge auf den Mond, während eine Astronautin mit Hochdruckreiniger ausgestattet die Kameralinse poliert und dabei dem Publikum, das davor sitzt, unweigerlich ihr Gesicht in immer größer werdender Großaufnahme zeigt.
Der Einstieg in Kagels Skandalstück, das bei der Uraufführung wegen Drohbriefen nur unter Polizeischutz veranstaltet werden konnte, gelingt mit diesem ersten Teil äußerst komödiantisch. In der Inszenierung, die aus drei Teilen besteht, bedienen sich die Luzerner einzelner Abschnitte aus Mauricio Kagels 466 Seiten langer Komposition. Insgesamt – so lautete die Vorgabe des argentinisch-deutschen Komponisten – soll das Stück die 100-Minuten-Länge nicht überschreiten. So ist es an der jeweiligen Regie, aus den hunderten Einzelaktionen des Werkes in nicht fest-gelegter Reihenfolge zu wählen. Dass das Team am Theater Luzern eine sehr passende Auswahl und ein gelungenes Arrangement der zur Verfügung stehenden Bausteine getroffen hat, wird in der Premiere von Minute zu Minute deutlicher. Von Anfang an gelingt es, mit den Darstellungen, den verrückten, grotesken und farblich akzentuierten Bildern sowie einem Ensemble, das sich selbst immer wieder aufs Korn nimmt, die Zuhörer auf die Kagel’sche Reise durch die Theaterwelt mitzunehmen.
Nach den kurzweiligen 19 Filmen aus den Containern hebt sich der Bühnenvorhang und es geht live im Theater weiter. Die zunächst leere, geradezu kahl wirkende Bühne füllt sich mehr und mehr mit Leben. Drei Sängerinnen werden von einer männlichen Gretel mit Probenzetteln versorgt, singen sich ein und staunen nicht schlecht, als hinter ihnen die gesamte Kostümerie an Kleiderstangen aufgefahren wird. Da schlüpft ein Sänger plötzlich ins tiefrote Carmen-Kostüm, deutet eine übertriebene Habanera-Arie an und wird von zwei Statisten angehimmelt. An anderer Stelle wird eine Sängerin zur Marienfigur mit goldener Sonnenkrone und könnte kaum heiliger ausschauen, als sie plötzlich ihre Bluse öffnet und den blanken Busen zeigt. Und gerade, als sich der Gedanke breit macht, dass also auch diese Inszenierung nicht ohne nackte Körper auskommen will, schießen Wasserstrahlen aus den Brüsten der Maria und offenbaren, dass diese nur aus Plastik sind. Das Publikum kommt aus dem Lachen kaum mehr heraus. Auch nicht, als einer der Darsteller den Hamlet geben will, jedoch kaum über „Sein oder nicht sein“ herauskommt, weil seine Kollegen lieber andächtig seinem „Übersetzer“ im Hintergrund lauschen, der nur „Bli bla blubb“ von sich gibt. Der unbeachtete Hamlet rastet aus, fragt sich und die Zuhörer, was das hier „eigentlich für eine Scheiße ist“.
Wie soll dieses Stück nur enden? Erneut gelingt dem Luzerner Team um Lydia Steier ein genialer Coup. Das Publikum wird auf den Vorplatz des Luzerner Theaters gebeten und folgt dem wie ein bunt gekleideter Ku Klux-Clan ausschauenden Chor, der eine Maria auf dem Thron sowie eine Miniaturversion des Theaters geleitet, in einer Prozession zur Franziskanerkirche. Dort geht es zum Ursprung des Theaters zurück. Lauschen die Zuschauer zunächst noch einer Art Mönchsgesang aus allen Ecken der Kirche, steigt das Ensemble, das nun von Tänzerinnen und Tänzern komplettiert wird, in ein Bacchusfest ganz im Stil des antiken Roms ein. Auf einem Laufsteg in der Mitte der Kirchenbänke feiern sie sich, ihre skurrilen Figuren und das Theater, dessen Miniatur-Nachbildung sie schließlich wie den Star bei einem Rockkonzert über ihre Köpfe weitergeben.
Mauricio Kagels „Staatstheater“ lässt in seiner Konzeption Inszenierungen in jede Richtung zu. Es könnte eine reine Parodie auf die Arroganz der Solisten und das Gehabe großer Opernstoffe sein. Doch zum Start des neuen Leitungsteams um die Intendantin Ina Karr mit Lydia Steier und Lars Gebhardt (Oper), Katja Langenbach (Schauspiel) und Wanda Puvogel (Tanz) bringt die Luzerner Aufführung bei aller Komik eine ganz andere Geste zur Geltung: „Wir lieben Theater!“ Die Hingabe, die ungezügelte Freude, mit der das gesamte Ensemble die Theaterwelt überspitzt, kann gar nichts anderes bedeuten und unterstreicht – vor allem nach so langer Corona-Pause – einmal mehr, wie sehr sie vermisst wurde: diese schöne schräge (Theater-)Welt.