Was im Übrigen auch das Idealbild der römischen Matrone betrifft, keusch, tugendhaft und häuslich. Im Gegensatz dazu waren die Frauen der Etrusker selbstbewusst, sie traten öffentlich auf, waren berufstätig und galten als sexuell freizügig (das belegen zahlreiche schaudernd-faszinierte Berichte römischer Autoren). Das ist deshalb von Interesse, weil das Libretto der Oper wiederholt auf den römisch-etruskischen Gegensatz abhebt: Wenn da etwa der etruskischen Kultur das „Paradox“ attestiert wird, sie sei zugleich von der „Leidenschaft für das Erschaffen“ wie von der „Lust am Töten“ besessen gewesen, dürfte im Jahr 1946 die „entgleiste“ Kulturnation Deutschland mitgemeint gewesen sein.
Aus dieser fragwürdigen Geschichtsinterpretation resultiert dann auch das ebenso fragwürdige Frauenbild des Librettos: Keuschheit und eheliche Treue sind Werte an sich. Die erste deutsche Übersetzung trägt dem Rechnung, wenn es die anderen römischen Frauen, also die, die sich mit den „Besatzern“ eingelassen haben, als „feile Metzen“ bezeichnen lässt. (Man erinnert sich dabei an die wirklichen und vermeintlichen Kollaborateurinnen, die man noch nach jedem Krieg auf offener Straße zusammenprügelte und auf jede erdenkliche Weise demütigte – auch das Akte der Vergewaltigung.)
Lucretias Tragödie rührt daher, dass ihr nicht nur körperlich und seelisch Gewalt angetan wird, sondern dass sie darüber hinaus gezwungen wird, die hohen Ideale der römischen Tugend zu verraten: Sie tötet sich nicht allein des erlittenen Traumas wegen, sondern weil sie, wenn auch unter Zwang, mit einem anderen Mann als dem eigenen Geschlechtsverkehr hatte. Das eben machte sie, obwohl sie eine Selbstmörderin war, zum Tugendideal auch noch der christlichen Frauen: Und als solches wandert ihr Bild durch die gesamte europäische Kunstgeschichte (wobei Lucretia zumeist nackt dargestellt, mithin unter dem Vorwand der Tugendhaftigkeit der bösen Lust Vorschub geleistet wird).
Alle diesbezüglichen Texte hat der Librettist Ronald Duncan einem Kommentatoren-Paar in den Mund gelegt, das er, nach griechischem Vorbild, „Chorus“ nennt: Sie kommentieren und deuten das Geschehen, beschreiben das Setting, führen in die Handlung ein, bisweilen sprechen sie die Protagonisten direkt an. Dazu gehört auch eine dezidiert christlich-teleologische Perspektive: Die menschliche Sündhaftigkeit ist dazu bestimmt, in Christus Erlösung zu finden. Selbst wenn man die christliche Rezeption der Lucretia-Geschichte voraussetzt, wirkt das (und wirkte wohl auch zur Entstehungszeit) merkwürdig aufgesetzt. Auch wenn Librettist und Komponist, die sich aus der christlich-pazifistischen Bewegung kannten, in dieser Anschauung einig gewesen sein dürften.
Diese komplexe Gemengelage vorausgesetzt, ist klar, warum das Vorhaben des Regisseurs Christian von Götz nicht ganz aufgehen konnte: das Stück als Beitrag zur aktuellen Me-Too-Debatte zu verstehen. Der Zwischenvorhang mit der Aufschrift „We are Lucretia“ macht es (über)deutlich. Die Inszenierung knüpft auch im Detail an aktuelle Debatten an: Wo beginnt sexuelle Gewalt? Tarquinius jedenfalls beschleicht Lucretia in ihrem Schlafzimmer, bevor er sie vergewaltigt, er fotografiert sie heimlich, auch unter dem Nachthemd.
Im Interview fürs Programmheft motiviert Dramaturg Samuel C. Zinsli Lucretias Selbstmord damit, dass ihr Umfeld zwar verständnisvoll reagiere, aber dann auch wieder zum Alltag zurückkehren möchte, Lucretia also mit der Bewältigung ihres Traumas allein gelassen werde. Das freilich passt nur bedingt zum Text, in dem sie bis zuletzt obsessiv mit den Themen „Keuschheit“ und „Schande“ beschäftigt ist. So musste der Regisseur für zusätzliche Fallhöhe sorgen: In Gießen ist Lucretia schwanger und erleidet durch die Vergewaltigung eine Fehlgeburt.
Jenseits dieser stückimmanenten Widerstände entwickelt die Inszenierung ihre Fabel klar und schlüssig. Der Gegensatz zwischen der rohen Soldateska, ihrer Sauferei, den Männergesprächen im Pissoir einerseits, der von großen floralen Wandornamenten und Vorhängen dominierten Frauenwelt, darin Lucretia blondgelockt im rosa Nachthemd (Ausstattung: Lukas Noll): Das alles reproduziert zwar Klischees, aber eben jene, in denen die Figuren ja auch befangen sind und bleiben. Eine zusätzliche Dimension erhält das Geschehen, indem die heimlichen Protagonisten des Stücks, „Female Chorus“ und „Male Chorus“, in das szenische Geschehen einbezogen werden, dergestalt, dass eine Frau, unterstützt von einem Freund oder Kollegen, das ganze Bühnengeschehen imaginiert, um ein erlittenes Trauma sexueller Gewalt zu bewältigen. Dieser durchaus komplizierte Ansatz wird mit großer darstellerischer Genauigkeit geklärt und beglaubigt: Das identifizierende Hineintreten des „Female Chorus“ in das Spiel, der Wechsel der Perspektive, die teilnehmende, unterstützende Haltung des „Male Chorus“.
Gießen hat ein hervorragendes Ensemble für diese Produktion. Zunächst zu nennen sind Bernhard Berchtold und Anna Gabler als „Chorus“, die ihre umfangreichen Parts eben nicht nur als unbeteiligte Zuschauer deklamieren, sondern vielfältig in die Bühnenaktion involviert werden – bis dahin, daß „Female Chorus“ als Lucretias Double auftritt. Insbesondere Bernhard Berchtold beeindruckt mit klarer Diktion in dem einst von Peter Pears kreierten Tenorpart. Grga Peroš, ein Bariton von stimmlich wie physisch mächtiger Statur, ist Tarquinius, Christian Tschelebiew mit hellem beweglichen Bass ein von Zweifeln umgetriebener Collatinus. Kay Stiefermanns kultivierter Bariton ist fast schon eine Luxusbesetzung als frauenverachtender General Junius (dessen Vernageltheit die Regie in physische Blindheit umsetzt). Zentrum der Inszenierung ist aber Evelyn Krahe in der für die große Kathleen Ferrier geschriebenen Altpartie der Lucretia – darstellerisch aufs Stärkste gefordert, und doch unfehlbar klar, prägnant, von warmem Wohllaut. Die überaus delikate, für ein Orchester von nur 13 Spielern konzipierte Partitur, ein Musterbeispiel auch an thematisch-motivischer Ökonomie, entfaltete unter Florian Ludwigs Dirigat beträchtliche Sogwirkung, die Instrumentalsoli (Harfe!) brillierten. Gesungen wurde ein tadelloses Englisch, eine neue deutsche Übersetzung (die sich von den Verzopftheiten der älteren Fassung freihält) lief in den Übertiteln mit.
Dennoch: Zweifel bleiben. Das Stück fügt sich dem aktualisierenden Zugriff nur sehr bedingt, und bestimmte Passagen zu überhören, hilft nur wenig. Es bleiben Inkongruenzen.