Foto: Dörte Lyssewski, Marie-Luise Stockinger, Marcel Heuperman, Mehmet Ateşçi̇ und Andrea Wenzl in „Lärm“ am Akademietheater © Matthias Horn
Text:Detlev Baur, am 5. September 2021
Es beginnt tatsächlich sehr lärmig. Die Musik (William Minke) wummert opernhaft laut im eher intimen Akademietheater und die sechs Darstellerinnen und Darsteller geben von Anfang an alles, auch stimmlich. Unverkennbar hat hier Frank Castorf die österreichische Erstinszenierung (insgesamt die Zweitinszenierung) von Elfriede Jelineks Stück zur Pandemie inszeniert; auf die recht kleine Bühne wurde von Aleksandar Denic ein großer, innen begehbarer Kopf mit Helm gebaut; auf der anderen, der linken Bühnenseite ist vor einem Geldautomaten vor allem Platz für eine große nach oben hochziehbare Leinwand. Ein großer Teil der – nur ! – knapp vierstündigen Inszenierung (samt Pause) wird live gefilmt im Hintergrund bzw. im Untergrund, wo sich ein kleiner Gitterkäfig befindet (Live-Kamera: Andreas Deinert, Mariano Margarit, Live-Videocutter: Georg Vogler, Tonangler*in: Flora Rajakowitsch, Matthias Ermert, Video-Design insgesamt: Andreas Deinert) – es handelt sich also wieder einmal um Live-Stream-Theater vor Ort, wie es Castorf seit über 20 Jahren betreibt. Und auf der Leinwand wird dann auch gleich zu Beginn intensiv vom Schicksal des Odysseus und seiner Gefährten bei der Zauberin Kirke berichtet. Die Inszenierung nutzt ausführlich den Text aus dem zehnten Buch der „Odyssee“.
In Jelineks Drama „Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!“ sind Anspielungen auf die Geschichte von der erotisch fragwürdigen Begegnung, in der die Gefährten des Helden zu Schweinen verwandelt sind, verwoben in eine monologische Suada von zu Schweinen gewordenen, selbsternannten Opfern der Mächtigen, die zu mancher Verschwörungstheorie und Corona-Leugnung neigen. Castorf macht die Vorlage hör- und sichtbar – Branko Samarovski etwa ist eingangs ein Sauerstoff-bedürftiger alter Held – und spielt auch immer wieder den Homerschen Originaltext. Die intellektuell fordernden Verknüpfungen in Jelineks Textfläche werden so theatral intensiv belebt. Dabei wirkt die Mischung am Anfang durchaus noch verwirrender als in einer textgetreuen Inszenierung, macht aber mit zunehmender Dauer die Ängste und Verdrängungen der kleinen Gesellschaft seh- und nachfühlbar. Statt mit Videos von Schlachtfabriken oberflächlich Jelineks Text zu ergänzen, setzen Castorf und das grandiose Ensemble (historisch ausschweifend von Adriana Braga-Perektzki eingekleidet) auf die Geschichte von Kirke und den geschwächten Männern und erweitern das mit Jelineks Text; die Leugnung der Krankheit wird so zu einem wiederkehrenden Motiv, das allerdings stärker als in der Textvorlage von menschlich-männlichen Problemen überlagert ist. Der #MeToo-Skeptiker Castorf erweist sich hier als sehr genauer und gnadenlosen Kritiker unserer patriarchalischen Kultur.
Zu Homer und Jelinek kommen andere Texte wie Horkheimers scharfe Gesellschaftsanalyse in der Skizze „Der Wolkenkratzer“, die nicht nur lokale Ungleichheiten beschreibt, sondern auch weltweite Ungerechtigkeit, einschließlich der totalen Ausbeutung der Tiere. Die Erzählung „Die Marter der Hoffnung“ von Auguste Villiers d’Isle Adams, die weitgehend aus dem Kellerkerker übertragen wird, mag erst für Verwunderung sorgen. Dann zeigt sich zunehmend, dass das furchtbare Schicksal eines Rabbis zu Zeiten der spanischen Inquisition bestens zu den antisemitisch verschmierten Verschwörungsgespinsten der von Jelinek zu Wort gebrachten Stimmen passt. Castorfs dramaturgisch unerreicht assoziatives Theater braucht auch in dieser Inszenierung seine Zeit zur Entwicklung, auch wenn sie vergleichsweise kurz geraten ist – der gleichnamige Kanzler spielt übrigens auch eine lautstarke Rolle.
Den Aspekt der männlichen Schweinereien in Ischgl verstärkt die Inszenierung durch die ausführliche Kirke-Erzählung aus der Antike. So hat der teils von innen bespielte antikisierende Kopf eines Kämpfers, der auch zum Häuschen der Zauberin werden kann, seinen tiefen Sinn. Der Coronahotspot Ischgl erscheint – auch das ein deutlicher Unterschied zu Karin Beiers Uraufführung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg – nicht direkt auf der Bühne, wird nur einmal über ein Fotobuch mit Abgründen von Sex und Ski, sichtbar, das die Darstellerinnen interessiert und verwundert durchblättern, – und er wird im musikalischen Hintergrund angedeutet.
Immer wieder erlaubt sich die Inszenierung stille Momente, ohne Film und ohne Zusatzton; und hier zeigen Mehmet Atesci, Marcel Heupermann, Dörte Lyssewski, Branko Samarovksi, Marie-Luis Stockinger und Andrea Wenzl, dass ihre phänomenale Präsenz nicht nur im lauten Live-Video, sondern auch im intensiven, stillen Spiel funktioniert. (Das schüchterne Schwein Edmund fällt bei seinem Kurzauftritt eher durch zarte Grunzlaute auf.) Das gesamte Ensemble spielt laut und leise stark auf; mit kleinen improvisatorischen Ausbrüchen wird die gemeinsame Theatervergangenheit von Lyssewski und Samarovski im Verhältnis eines älteren Mimen zu einer Anfängerin durchgestritten oder Mehmet Atescis Herkunft aus Berlin-Neukölln mit seiner hilflosen Männlichkeit als Odysseus lose in bösartige Verbindung gebracht. Auf der kleinen aber komplexen Bühne entsteht eine ungemein reiche Inszenierung, die mit theatralen Mitteln der Welt – und auch dem Land Österreich und seinem gesprächigen Kanzler-Helden – begegnet. Obwohl etwa nur zur Hälfte Jelineks Drama gesprochen wird, beschreibt der Abend beeindruckend in Jelineks Sinn, wie Corona das Symptom eines maroden Systems ist. Der alte Meister Castorf hat sich hier in seinen Mitteln keineswegs neu erfunden, aber mit befeuerten jungen und älteren Darstellerinnen und Darstellern entsteht ein grandioses, frisches und vielfältiges Krisen-Stück.