Foto: „Solaris“ am Theater und Orchester Neubrandenburg/Neustrelitz © Christian Brachwitz
Text:Michael Laages, am 5. September 2021
Punktlandung – eine Woche nach der Premiere am Landestheater in Neustrelitz wird der 100. Geburtstag von Stanislaw Lem gefeiert, dem in Lwow, einstmals Lemberg, geborenen polnischen Wissenschaftler, Philosophen und Schriftsteller. Und ganz zufällig parallel zur Premiere in der Residenzstadt am Rande der mecklenburgischen Seenplatte haben die Wellen vom Deutschlandradio den Autor mit einem opulenten Drei-Stunden-Feature gewürdigt, das gut zur ähnlich energischen Kraftanstrengung des Theaters passte – weil tatsächlich nicht nur das längst klassische Material des literarischen und wissenschaftlichen Visionärs einmal mehr beschworen wurde, sondern das Bemühen zu spüren war, neue Spielformen zu konstruieren für Lem, der seinerseits so viel neue Welt erfunden hat mit der Kraft der ungebändigten Phantasie.
Lem starb 2006; „Solaris“, das bekannteste Werk des Schriftstellers, erschien vor 60 Jahren – es taucht in mehreren Spielplänen der beginnenden Theatersaison auf, etwa auch am Staatstheater in Cottbus. Den Stoff tragen viele Regisseurinnen und Regisseure seit Jugendzeiten mit sich herum; denn tatsächlich hat für viele gerade mit Lem und „Solaris“ das Denken über den Tellerrand der eigenen Welt hinaus begonnen – nicht zuletzt der Verfilmungen wegen: 1972 durch den charismatischen Russen Andrej Tarkowski, drei Jahrzehnte später noch einmal durch Steven Soderberg, mit George Clooney in der Haupt- und Ulrich Tukur in einer wichtigen Nebenrolle. Tatjana Rese, Schauspielchefin an der Bühne im Nordosten, die das alte Residenztheater in Neustrelitz mit dem Schauspielhaus in Neubrandenburg verbindet, erzählt im Programmheft von der eigenen Faszination dem Roman gegenüber, der in der sogenannten „Tauwetter“-Periode auch in der DDR natürlich den politischen Horizont erweitern half – wie wenig sich auch der fundamental pessimistische polnische Philosoph geschert haben mag um den Auf- und Umbruch im Alltag.
Viel Heute hatte er ja voraus gesehen zu seiner Zeit – und eben auch, dass der Mensch an sich wohl nicht in der Lage sein werde, beizutragen zur Rettung des eigenen Lebensraums angesichts der Apokalypsen, die ihm damals schon drohten – und heute mehr denn je. „Requiem für einen Planeten“ heißt Lems „Solaris“ im Hier und Heute. Und wer Lem recht versteht, wird ahnen, dass hier nicht der Abgesang für die Rätselwelt Solaris gemeint ist, sondern der für die Menschenwelt, die wir (noch) bewohnen; und zerstören.
Zugegeben: ziemlich viel Vorrede – aber die ist nötig angesichts der Herausforderung, die „Solaris“ (und Lem generell) immer wieder darstellt; auch in Neustrelitz. Gerade wem „nur“ Phantasie und Technik der Bühne zur Verfügung stehen, muss wichtige Entscheidungen treffen. Tatjana Reses Team hat eine essenzielle getroffen, als sie den theatererfahrenen Autor Gregor Edelmann hinzuzog – der hat Lems Roman nicht nur „für die Bühne bearbeitet“, sondern ihn genutzt als Ausgangspunkt fürs eigene Denken und Schreiben. Er markiert tatsächlich nur den zentralen Handlungsverlauf: um den Wissenschaftler Kelvin, der in der Raumstation über dem Planeten Solaris erscheint, um zu prüfen, warum sich technische und menschliche Ausfälle hier derart häufen. Katastrophen überall: Der Kontakt zur Erde ist gekappt, schon hat sich einer der Besatzungsmitglieder umgebracht, und alle scheinen langsam in den Wahnsinns zu driften. Warum? Das erlebt Kelvin am eigenen Leibe, an der eigenen Psyche – der fluoreszierende Ozean, der „Solaris“ bedeckt, ist offenbar in der Lage, Phantasien und Erinnerungen zu materialisieren, die in den Köpfen der Besatzungsmitglieder unauslöschbar gespeichert sind. So begegnet Kelvin der eigenen Ex-Geliebten, die sich vor langer Zeit umbrachte – und an diesem Selbstmord fühlt Kelvin sich lebenslang mitschuldig.
Er muss sie jetzt seinerseits erschießen und in einem Bühnen-Loch entsorgen – aber auch das wird nichts nützen. Szenen wie diese, massiv in der Gewalt oder im Schrecken (wie Kelvins Gespräch mit dem toten Kollegen Gibarian in einer Art Leichensack), sind eher die Ausnahme in Reses Bühnenphantasie; die Regisseurin sucht mit Edelmanns Texten (und vielen Zitaten darin) vor allem die gedankliche Abstraktion. Marcus Doering hat Norbert Bellens eher kargem Raum (mit einer massiven Kommandobrücke quer in der Bühne als zentralem Bildmotiv) eine gehörige Portion computergenerierter Effekte mitgegeben („Video-Choreografie“ heißt das im Programmheft), Lars Scheibner hat Tänzerinnen und Tänzer der Deutschen Tanzkompanie als amorphe Solaris-Wesen choreografiert, der Opernchor des Verbundtheaters steuert unter Thomas Wolters Leitung an zentralen Stellen abstrakten Weltenklang bei, etwa Eric Whitacres Komposition „Lux Aurumque“, und Lukas Storch sitzt mittendrin und zaubert Klang an einer jener einfachen Orgeln, mit denen vor 50 Jahren der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch unterwegs war. All das ist eindrucksvoll ausgeleuchtet, etwa die Kostüme und Regenschirme des Chores, die das Flimmern des Solaris-Ozeans widerspiegeln… generell zeigen alle technischen Bereiche des Hauses, wie gut sie sind.
Und das Ensemble sowieso – mit Jonas Münchgesang, Thomas Pötzsch, Frank Metzger und Momo Böhnke, den Männern auf der Raumstation, dazu dem ulkigen „Chatbot“-Roboter Daniel Adolf und den beiden Frauen im Raum: Lisa Scheibner als immer wiederkehrende geliebte Tote und Angelika Hofstetter als Zeitreisende jenseits aller Gegenwarten. All das macht großen Eindruck – und das Theater stemmt vom 17. bis 19. September auch noch ein ganzes Science-Fiction-Wochenende, mit Gästen und Gesprächen.
Das Fest für Lem hat begonnen.