Und was dabei herauskommt, ist ein musiktheatralisch beachtliches, in Teilen mitreißendes, tödliches Intrigenspiel im englisch-schottischen, von Liebesleidenschaften durchkreuzten Machtpoker des 16. Jahrhunderts, das wir ähnlich aus Friedrich Schillers „Maria Stuart“ kennen.
Eigentlich ist die Aufführung eine Übernahme der Inszenierung, die der für Regie und Bühne verantwortliche Jochen Schönleber für das plüschige Slowacki-Theater in Krakau konzipiert hat. Die Umsetzung der Produktion in die Wildbader Corona-Bedingungen wirkt wie ein Spiel auf der Probebühne. Der Philharmonische Chor Krakau erscheint zwar hin und wieder als Statisten-Volksmenge auf den Theaterbrettern, singt aber zumeist hinter und neben der nachtschwarzen Bühne. Für die teils in glitzernder Abendrobe, teils im Gammleroutfit (Kostüme: Ottavia Castel-lotti) herausgeputzten dramatis personae, die Abstand voneinander halten, gibt es lediglich zwei plastikrot bezogene Regie-Sessel, ein angedeutetes Rednerpult und noch ein paar Stühle – keinen Thron, geschweige denn einen Thronsaal. Manchmal hastet der bei Rossini als Hauptmann der königlichen Wachen aufgeführte Guglielmo (Luis Aguilar) als Regieassistent im Straßenanzug mit kurzen tenoralen Anweisungs-Einwürfen und aufgeschlagenem Skriptbuch über die Bühne. Auf der Bühnenrückwand sind per Video-Clips eingespielte Projektionen zu sehen, die das Musikdrama in die Gegenwart holen: versammelte Bürger im Corona-Protest, dann eindrucksvoll zu den Kerker-Szenen im 2. Akt mehrfach „ein anderer“ Leicester, von zwei schwarzbebrillten Geheimagenten durch verwinkelte Folterkeller-Gänge geführt, in der Schlussszene „eine andere Elisabeth“, die sich vor dem Spiegel ihr Gesicht abschminkt. Das Philharmonische Orchester Krakau sitzt eingekeilt zwischen dem begeisterten Szenenapplaus spendenden kleinen Premierenpublikum und der improvisierten Bühne auf Tuchfühlung mit den Vokalsolisten.
Musikalisch ist diese Produktion ein Ereignis. Selten hört man die Ohrwurm-Ouvertüre, die Rossini mehrfach verwendete und vor allem aus seinem „Barbier von Sevilla“ bekannt ist, mit solch schönen Crescendo-Anläufen wie in Wildbad. Dirigent Antonino Fogliani, ein ausgewiesener Rossini-Spezialist, hat aus dem auffallend jugendlich besetzten Orchester-Ensemble eine hocheffiziente, klangmächtige Rossini-Truppe geformt und auch den Chor zupackend im Griff. Herausragend die Sopranistin Serena Farnocchia als Königin Elisabeth I. Ihr Bewegungsgefühl ist in der Verzierung vokaler Linien zu Hause, auch das Tremolando in Bögen und Haltetönen scheint ihr das Natürlichste von der Welt. Vor allem ihre hochdramatischen Auftritte geraten zu einem Fest der Koloratur. Tenor Patrick Kabongo meistert als triumphierender Heerführer, ins Gefängnis geworfener Liebhaber und Elisabeth-Günstling Leicester nicht nur die von Bläsern begleitete Traumszene (im 2. Akt) mit Bravour. Der etwas näselnde und pressende Tenor Mert Süngü zeichnet sich in seiner anspruchsvollen Rollenpartie als rachsüchtiger Bösewicht-Norfolc aus. Veronica Marini punktet als Matilde, der vom Rossini-Librettisten Giovanni Schmidt in den Plot eingeführten Kunstfigur (Maria Stuart-Tochter), mit einer in Koloratur-Girlanden ausschweifenden, wunderschönen Arie („Sento un’interna voce“) im 1. Akt. In der Hosenrolle des Enrico gefällt Mara Gaudenzi.
Nicht nur das von allen Beteiligten gestaltete Stretta-Finale des ersten Akts, das die musikantischen Schlenker der Ouvertüre wiederholt, entfaltet ein farbenprächtig funkelndes Musikfest. Was will man mehr?