Matthias Leja und Katharina Hauter in „Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit“

Geschlechterspiele

Roland Schimmelpfennig nach Arthur Schnitzler: Siebzehn Szenen aus der Dunkelheit

Theater:Schauspiel Stuttgart, Premiere:10.07.2021 (UA)Regie:Tina Lanik

„Das Konzept der Überschreibung im Theater interessiert mich im Theater eher wenig”, formuliert Roland Schimmelpfennig in einem Interview im Programmheft. Konsequent wird sein neues Stück „Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit“ nun nicht mehr als Überschreibung des „Reigen“ von Arthur Schnitzler vom Schauspiel Stuttgart beworben, sondern der „Reigen“ als Vorlage benannt. Die zehn Dialoge, die noch bei der Uraufführung 1920 einen Skandal verursachten, hat der vielbeschäftigte Autor Schimmelpfennig in siebzehn Skizzen verwandelt. Die Struktur der Vorlage behielt er dabei weitestgehend bei. Seine Veränderungen betreffen zum einen den spielerischen Umgang mit den Szenen selbst, die in mehreren Anläufen Varianten ausprobieren, zum anderen den „Schnitt durch die Gesellschaft“: Süßes Mädel, anständige Frau, junger Herr sind Zuschreibungen aus dem Fin de siècle, die nicht mehr ganz leicht zu entschlüsseln sind – und vor allen Dingen auch vorführen, wie sehr die Frau allein als Objekt männlicher Begierde wahrgenommen wird.

Die Frauen sind bei Schimmelpfennig selbstbewusst. Selbst dort, wo sie durch den Chef missbraucht werden wie das Zimmermädchen Jessica, die Celina Rongen als verhuschtes Wesen vorführt. Gegen Chef Frank, den Marco Massafra aalglatt-pornogeil dargestellt, weiß sie sich aber zu wehren, zeigt ihn bei der Direktion an, er verliert seinen Job. Nach dem Prinzip des Reigens trifft er dann auf Nina, eine emanzipierte Frau, die ihre Datings per Internet abcheckt, aber da bekommt Frank trotz allen Bemühens nicht einmal eine Erektion. Katharina Hauter spielt diese Rolle total cool, überlegen, versucht sich außerhalb der Ehe mit Johannes, dem Matthias Leja skizzenhafte intellektuelle Züge gibt, einmal die Woche mit anderen Männern sexuell zu befriedigen. Johannes kämpft um seine „Würde“, mit Kreide schreibt er auf die Drehbühne einen Brief, in dem er das Ende der Ehe ankündigt. In drei Variationen wird diese Szene zwischen Nina und Johannes vorgeführt, bis auf den Schluss fast wortgleich, nur fallen am Ende der jeweiligen Szene andere Entscheidungen: So geht nach der ersten Fassung Johannes wirklich, in der zweiten schickt ihn Nina aus dem Haus und droht ihm mit dem Anwalt.  

In ihrer dreifachen Ausführung steht die Beziehung Ninas und Johannes’ im Zentrum des Stückes: Ein Mann, der mit seiner Würde auf einer nicht ausgesprochenen Anständigkeit seiner Frau pocht und eine Frau, die auf ihrer Selbständigkeit besteht. Alte und neue Moralvorstellungen prallen in dieser Ehe aufeinander, die bis dato nicht ausgesprochen wurden. Nur im Off ist ihr gemeinsames Kind zu hören, das vom Rauch gestört wird. Der Mann muss sich hier neu erfinden, aber nicht so, wie Johannes es tut, der auf der Toilette einer Szenekneipe Sex mit der Punkerin Yazmina hat. Paula Skorupa spielt diese Rolle sehr direkt, die Punkerin will unbedingt zum Film. Als sich zeigt, dass Johannes keine Beziehungen zu dieser Branche hat, bändelt sie mit dem Drehbuchautor Nick an, dem Valentin Richter verklemmte Züge gibt. Mit diesen Szenen treiben die Skizzen auf ihr Ende zu. Anfang und Ende gestaltet Schimmelpfennig eng an der Vorlage: In der ersten Szene begegnen sich die Prostituierte Alejandra, von Robert Rožić einfühlsam als Transvestit gespielt, und der gerade aus Afghanistan oder Mali zurückgekehrte Soldat Martin (bei Schnitzler sind es Dirne und Soldat), dem Felix Strobel schwermütige Züge gibt. Am Ende schlägt der entfesselte Graf, pardon Victor, der Filmproduzent, Alejandra tot, die mit ihm Fetischspiele getrieben hat.

Bevor es aber zu diesem Shutdown kommt, zu dem auch noch gehört, dass Jessica Frank in das Knie schießt, kommt es zur Begegnung zweier großartiger Schauspielerinnen: Sylvana Krappatsch als die Schauspielerin Viviane, der der Drehbuchautor eine „authentische“ Geschichte geschrieben hat, und Evgina Dodina als Inbegriff des Männlichen, zugleich parodierend, wie gefährlich ernst. Da knistert es vor erotischer Spannung, wobei man kaum Mitleid mit der Viviane hat, die, nur, um ihre Rolle zu bekommen, sich auch verkauft. Wie in allen „Skizzen“ von Schimmelpfennig geht es nicht um Begehren, sondern Sex wird zu bestimmten Zwecken eingesetzt, um Macht auszuüben oder um etwas zu erreichen. Sex funktioniert wie eine Maschine, Gefühle stören da nur. Macht ausüben wollen nicht nur die Männer, die Schimmelpfennig eher als Schwächlinge zeichnet.

Tina Lanik versucht ihrer Inszenierung alles Naturalistische auszutreiben. Auf der von Stefan Hageneier gestalteten leeren Szene gibt es außer der Drehscheibe nur einen hohen goldenen Vorhang, der mal über die ganze Bühne geht, manchmal aber auch nur Segmente anzeigt. Ganz sparsam werden zu einzelnen Szenen Requisiten eingesetzt, Kreide etwa, oder ein Aschenbecher, Müll in einem Hotelzimmer, ein Gymnastikgerät. Die Szenenbeschreibungen von Schimmelpfennig werden von den Mitspielenden angesagt. Eine wichtige Funktion übernimmt dabei das Licht von Felix Dreyer, der zunächst mit einem, dann mit dreien, schließlich mit fünf Lichtkästen aus dem Schnürboden herabfahrend die Szenen ausleuchtet oder mit raffinierten Gegenlichtmomenten arbeitet. Neben Anleihen bei der Popmusik begleiten Violinentöne die Szenen (Komposition: Cornelius Borgolte). Trotz dieser Mittel, die schnelle Übergänge ermöglichen, wirken manche Szenen von den Tempi her verzögert. Was die Regie ermöglicht, ist ein Fest des Ensembles.