Maria Bengtsson als Blanche de la Force

Säkularisiert

Francis Poulenc: Dialogues de Carmélites

Theater:Oper Frankfurt, Premiere:04.07.2021Vorlage:Die Letzte am SchafottAutor(in) der Vorlage:Gertrud von Le FortRegie:Claus GuthMusikalische Leitung:Giedrė Šlekytė

„Das Kloster hat mich als Thema (…) nicht so sehr interessiert“, schreibt Regissuer Claus Guth im Programmheft. Für ein Stück, das über weite Strecken in einem Kloster spielt und in dem es darum geht, dass eine Gruppe von Menschen für ihren Glauben stirbt, erscheint das durchaus als  ungewöhnliche Sichtweise. Glücklicherweise interessiert sich Guth merklich für die Figuren und die Musik von Poulencs 1957 uraufgeführter Oper, besonders für die Protagonistin Blanche. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben. Sie ist allein unter Männern aufgewachsen, bei einem strengen Vater und einem Bruder, der sie „Hase“ nennt (nie stach das so deutlich heraus wie hier: Man denkt an Schlimmes, was die Regie angenehmerweise nicht bedient).

Blanche hat Angst. Immer, überall, vor fast allem. Guth personalisiert diese, indem er immer wieder stumm die Mutter auftreten lässt, indem an allen möglichen Stellen und Momenten nahezu penetrant Statuetten von Kleinkindern, vermutlich sogar Jesuskindern erscheinen oder platziert sind. Darüberhinaus hat Corona für diese Produktion offenbar nicht nur als Beschränkung, sondern auch als Inspiration gewirkt. Um ohne Abstände spielen zu können, musste das Solistenensemble täglich getestet werden und durfte nicht zu groß sein (die Statisten tragen Masken und halten große Abstände, der Chor singt, akustisch attraktiv, aus dem Oberrang). So hat Guth die kleinen Rollen bei den Ordensschwestern gestrichen und ihre Gesangspassagen teilweise umverteilt. Und er hat die vielen kleinen Männerrollen auf drei Sänger konzentriert: Vater, Bruder, Kammerdiener. So entkommt Blanche ihrer Familie genausowenig wie ihren Ängsten.

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Und das Kloster? Martina Segna hat einen nach einer Seite offenen Kubus aus Wänden mit schwarz-grau changierenden Rauten gebaut. Durch die Öffnung sieht man in einen weißen, leeren Raum. Ein achtköpfiges Tänzerinnenensemble stellt dekorativ Klosteratmosphäre her und spiegelt in seinen Bewegungen Blanches Ängste. Dazu hat sie Begegnungen: die strenge und doch liebevolle alte Priorin – eine Mutter oder Großmutter; später ihre Nachfolgerin, die Kraft spendet und dabei immer freundlich, fast zärtlich ist – eine große Schwester; die Novizenmeisterin, ganz Tatkraft und Konsequenz mit einem Schuss Ideologie – eine Lehrerin; schließlich die ganz in sich ruhende, fröhliche loyale Mitnovizin – eine Freundin.

Blanche träumt sich diese Menschen, dieses Kloster herbei, während sie ihr Trauma, ihre Psychose erlebt. Guth gelingen packende, in sich stimmige Szenen, die allerdings, zumindest bis zur Pause, nebeneinader stehen. Einen Spannungsaufbau gibt es nicht, eben weil der Regisseur einen Zustand beschreibt und keinen Prozess.

Nach der Pause sind wir in einem anderen Raum. Der Aufenthaltsort der Nonnen ist eine Art Wartezimmer, Wände mit einer Reihe von aus der Wand zu klappenden Sitzen, ganz regelmäßig. Von nun an verlagert sich das Geschehen noch stärker auf Blanche und wird doch dynamischer. Wenn die Nonnengruppe auf die Entscheidung über ihr Schicksal wartet, gehört Blanche spürbar nicht mehr dazu. Sie trägt nicht mehr ihre blaue Schwestern-Tracht, sondern den gelben Rock wie zu Beginn. Die tote Priorin erscheint ihr,die Bühne ist vollgestellt mit Sitzmöbeln und Elementen mit geometrischen Mustern, die an M. C. Eschers Graphiken denken lassen, an die Verbindung von Unendlichkeit und Ausweglosigkeit.

Und plötzlich sind da nur noch neun Frauen im gelben Rock. Und drehen durch. Die junge, neue Priorin kommt und spendet jeder einzelnen Trost. Wie Ambur Braid das macht, mit Körper und Stimme, mit breit strömendem, alles einschließenden Ton und dann wieder leichtem, fast lächelndem flüssigen Piano, muss man erlebt haben. Dann sind sie allein, die neun, im leeren Raum mit gelb-schwarzem Escher-Muster auf dem Boden. Und während bei Poulenc die Nonnen sterben – Schläge knallen aus dem Orchesterklang heraus und markieren die Arbeit der Guillotine – entledigt sich Blanche ihrer Alter Egos. Und bleibt allein. Und genießt noch einen Moment Stille, bevor das Licht verlischt.

In diesem zweiten Teil entwickelt die Aufführung Sogkraft, so dass man das Ende mitnimmt, obwohl die psychologische Konstruktion hier doch ein wenig überstrapaziert scheint. Diese Zweifel werden jedoch durch die musikalische Qualität zumindest nivelliert. Die junge litauische Dirigentin Giedre Slekyte dirigiert durchaus voran und macht so die Strenge dieser Partitur hörbar, hat aber auch ein Ohr für ihren Farbreichtum. Die nicht wenigen Stellen lyrischen Verweilens gestaltet sie sensibel und mit viel Klangphantasie, die oft unvermittelten dramatischen Ausbrüche kommen extrem dynamisch und wirken doch organisch entwickelt. Vor allem aber stellt Slekyte eine fantastische Balance zwischen Graben und Bühne her, schafft Transparenz, wo immer möglich und Dichte, wo nötig.

Und die Solistinnen und Solisten sind in der Lage, diese Spielräume zu nutzen. Elena Zilio, mittlerweile 80 Jahre alt, nimmt uns als alte Priorin gerdezu mit auf ihre Todesreise. Ihre Wut, ihr Schmerz, ihre Liebe, ihr Verantwortungsgefühl sind geradezu körperlich zu fühlen, die Stimmkraft ist voll intakt, die Textbehandlung umwerfend. Claudia Mahnke, die nach der Vorstellung offiziell zur Kammersängerin ernannt wurde, besticht als Novizenmeisterin einmal mehr durch Musikalität, Präsenz und Feintuning, gerade in der Darstellung, erfindet so eine sehr menschliche Fanatikerin, Florina Ilie ist eine überraschend dunkel timbrierte, sehr klug phrasiernde, sehr frisch klingende Constance. Maria Bengtsson als Blanche überstrahlt dieses außergewöhnliche Ensemble nicht, ist aber in jedem Moment dessen Mittelpunkt. Choreographisch stark gefordert, zeigt sie plastisch die Qualen ihrer Figur, ohne ständig Wirkungstreffer landen zu wollen. Da verhuscht vieles absichtsvoll, wird nach innen abgeleitet, oder in die Leere. Wir bekommen Angst um diese Frau, deren Leben die Angst ist, weil jeder Moment der sein könnte, der sie final überfordert. Auch die Herren, Davide Damiani, Hans-Jürgen Lazar, besonders Jonathan Abernethy mit attraktiv verschattetem Tenor als Marquis und Beichtvater, halten das hohe Niveau.

Szenisch sind diese „Dialogues“ ein handwerklich, gerade in der Personenführung, herausragender diskutabler Versuch, musikalisch – ein Fest.