Foto: Rahel Weiss als „Blue Fairy" © Daniel Roskamp (Screenshot)
Text:Andreas Falentin, am 11. Juni 2021
Ein Mensch ist allein in einem Raum. Das Telefon klingelt. Und es wird an der Tür geklopft. Geht er an die Tür? Geht er ans Telefon? Das ist das Strukturprinzip des „interactive, immersive theatre“ „P(a)inocchio“ von Lily Sykes und Thomaspeter Goergen, sozusagen ein, je nach Ebene, zwei- bis vierfach verästeltes Flussdiagramm, durch das man sich seinen Weg selber suchen darf und muss.
Der Mensch am Anfang ist „Loglady Gepetta“, beunruhigend gespielt von Eva-Maria Keller. Sie mag Puppen, offensichtlich, und redet mit uns Publikum oder mit sich selbst, Was auch passiert in diesen 50 Minuten, das „Oder“ ist immer dabei. Eindeutig lesbar ist kaum etwas, dialektisch lesbar ist nichts. Die Puppenmutter erzählt von ihren Puppen. Eine hat einen Fleck und wird gewaschen, eine andere in den Schlaf gewiegt. Eine Stimme beschwert sich, dass sie nicht einschlafen kann. Eine Horde von Babypuppen bewegt sich unruhig hüpfend über den Boden, als sei sie frisch aufgezogen. Die Mutter wird gewaltsam fortgeführt von zwei Maskierten. Und plötzlich ist da das Kind (Amelie Kriss-Heinrich). Es wird groß, ist offensichtlich sehr lange allein, begegnet dann Catfox (Lukas Umlauft) oder der Blue Fairy (Rahel Weiss). Die kann man aus Carlo Collodis Kinderbuchklassiker kennen, genau wie die Tatsache, dass hier ein unwissendes Kind ohne Sozialkompetenz in die Welt gerät. Sonst wird die alte Geschichte nicht bedient. Eine lange Nase etwa gibt es nicht. Und erst recht kein Happy End. Zu den Horror-Elementen – den Puppen in der verwahrlosten düsteren Wohnung, offenen Türen, die in die Finsternis führen, fiesen Liedchen, noch fieseren Geräuschen und raffiniert designten Sound-Effekten – gesellt sich Dadaistisches mit Ausflügen in die Popkultur, mal sanft, mal drastisch ironisiert. Die Entscheidungsalternativen für uns Zuschauer werden in poetisierende Fragen gekleidet wie „Besser geboren sein und also nicht zu leiden?“ oder „Folgen Sie ihrem inneren Kind?“ Das trifft am Ende auf die „Holy Virgin of the Church of Pleasureland“ (beunruhigend sanft und schrill: Christina Thiessen), die allerhand bedeutungsschwangere Zitate von sich gibt und unser Kind für irgendetwas begeistern will. Was – zum Glück, da sind wir uns einmal sicher – nicht klappt.
Es folgt die Auflösung: Gepetta beim Psychiater. Es geht um zwei Kinder. Eins ist fort oder tot, das andere „in die Räucherkammer gesperrt“. Alles wirkt wie verrückte Einbildung. Aber aus wessen Kopf? „Es ist das Unglück unserer Zeit, dass wir unsere Kinder zu sehr fürchten“, sagt der Psychiater (Aljoscha Langel), als er Gepetta entlässt. Ein würdiges Schlusswort: Man kann drüber nachdenken, muss aber nicht.
In „P(a)inocchio“ läuft etwas ab, was in die Zeit passt, aber fremd bleibt. Man erschrickt hier, erfreut sich da an einem Bild. Man flaniert hindurch. Dass man es gern tut, liegt an der Crew. Die Ausstattung von Daniel Roskamp, die Bildregie von Zuniel Kim, der Schnitt von Manh Tung Pham, die Musik von David Schwarz und das Sounddesign von Eeva Ojanperä sind nicht nur jedes für sich erlebenswert. Die Komponenten passen auch zueinander, entwickeln sogar gelegentlich eine Sogwirkung, zumindest bis zur jeweils nächsten interaktiven Gabelung. Vor allem aber ist hier ein optisches und akustisches Fundamententstanden, das theatrale Spielweisen am Bildschirm erlebbar macht. Und das ist schon ganz schön viel. Auch wenn die Geschichte, die Dringlichkeit fehlt: Man erfreut sich am Moment. Und wünscht sich, dass auf diesem Weg weitergegangen wird. Zu Inhalten.