Foto: Billy Thompson (Sebastian Haake) organisiert einen Streik © Matthias Baus für das Theater Koblenz
Text:Andreas Falentin, am 3. Juni 2021
Was ist eine Sozialgemeinschaft? Wie wichtig ist sie überhaupt? Gerade im englischen Sprachraum wurden diese Fragen immer wieder auf der Bühne erforscht und für sie produktiv gemacht, mit ästhetisch so unterschiedlichen Entwürfen wie „Our Town“ von Thornton Wilder oder „Under Milk Wood“ von Dylan Thomas. „The Last Ship“, 2014 uraufgeführt und in Koblenz erstmals in Deutschland zu erleben, schreibt diese Tradition fort und fügt ihr gleichzeitig eine neue Dimension zu. Denn Wallsend bei Newcastle ist ein realer Ort und die geschilderten Vorgänge um eine Werftschließung in den 80er-Jahren sind der Realität – und der Biographie des Komponisten Sting – zumindest abgelauscht. Da der konkrete Ort aus der Rückschau betrachtet wird, ist das Geschehen dynamisch: Wir kennen nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch die Zukunft dieser Menschen, erleben zu Beginn, wie ein gesellschaftlicher Mikrokosmos auf die schiefe Ebene gerät und müssen dabei zusehen, wie sie sich gegen das Abrutschen zur Wehr zu setzen versuchen.
Natürlich hilft die Musik, ein Amalgam von Folk-, Pop-, Shanty- und genuinen Musicalklängen mit spröder, manchmal tänzerischer, immer timingsicherer Melodik, die traumwandlerisch auf dem Grat zwischen Melancholie und Sentimentalität balanciert. Dazu haben John Logan und Brian Yorkey starke, fassbare Figuren geschrieben wie Peggy und Jackie White, große Liebende ein Leben lang, er Vorarbeiter auf der Werft, sie eine Art Mutter der Kompanie. Er stirbt an Lungekrebs. Da ist Gideon Fletcher, der „seine“ Meg mit 17 verlassen hat, um Kaff und Werft zu entfliehen, um auf See zu gehen, und nicht weiß, dass er eine Tochter hat, die wiederum gerne in London Popstar werden will. Es gibt Billy Thompson, den Marxisten und Davey Harrison, den Trinker und genialen Instinkt-Handwerker. Es gibt starke Frauen, die die Dinge klarer sehen und strukturierter handeln als ihre wutbesoffenen Männer. Und es gibt Adrian Sanderson, der, ohne nennenswerte Schulbildung, Homer, Cervantes und Shakespeare liest und sie gerne öffentlich zitiert, um diese geheimnisvollen Texte dadurch vielleicht verstehen zu können. Spätestens, wenn er an Jackies Sarg, den er selbst gezimmert hat, Dylan Thomas anzitiert, wissen wir, dass die Autoren genau wissen, was sie tun, dass sie die Kultur als Fundament gemeinschaftlichen Lebens bewusst gegen die Herrschaft von Geld und Ellenbogen stellen.
Der Regie führende Intendant Markus Dietze gestaltet diesen derart aufgeladenen Mikrokosmos durch klare Abläufe, was zu einem Teil sicher auch einzuhaltenden Hygienekonzepten geschuldet ist. Die szenischen Vorgänge laufen selbstverständlich ab, sind kleinteilig genau gearbeitet – jeder Schritt, jede Silbe – und schwingen doch frei. Weitgehender Verzicht auf Requisiten und Exaltationen verhindert ein Abgleiten in platten Realismus. Die Bühne von Paul Demelius ist ein Holzkasten, der hinten durch eine große Videowand begrenzt wird, auf die durchgängig Atmosphärisches und Dokumentarisches projiziert wird. Auch hier ist Versinnlichung der Zweck (und das zur Verfügung Stellen von Informationen). Illustration oder Dekoration wird vermieden.
Dazu korrespondiert, was Karsten Huschke vom Klavier aus mit seiner Band im Graben anstellt, mit Fiddle und Whistle, Gitarren und Akkordeon, Percussion und Keyboards. Der Klang erzeugt keinen Druck, will Ohr und Hörer nie manipulieren, sondern schafft Raum für das Spiel, versinnlicht die szenischen Vorgänge, zieht uns hinein. Er zwingt uns aber auch immer wieder, von außen zu schauen und zu hören, auf die Teile wie auf das Ganze, und natürlich auf das Schauspielensemble des Hauses, unterstützt durch Sänger, Tänzer und Choristen, aus dem niemand herausgehoben werden kann, weil alle alles geben. Da wird schon der nicht zu einfache a-Cappella- Anfangschor zum Ereignis. Hier ist eindeutig kein Weltklasse-Gesangs-Ensemble am Start, aber eins, das brennt, für das Stück und füreinander. Dass uns bewusst führt durch die Abwicklung der Werft bis hin zu dem Moment, wo die Werftarbeiter das Schiff besetzen, dass sie für einen Hungerlohn wieder demontieren sollen – weil der Auftraggeber Pleite ist – und mit ihm aufs Meer fahren. Einfach so. Kein toter König Artus auf dem Weg in sein Reich Avalon, kein Cowboy, der den Bösewicht mit dem schwarzen Stetson erschossen hat und jetzt in den Sonnenuntergang reitet, keine Apotheose – nur eine Geste, eine letzte Behauptung von Sichtbarkeit. Und damit sehr heutig, wie auch in den plastischen Porträts von Menschen, die einer radikalen Ökonomisierung aller Lebensbereiche mit Unverständnis gegenüber stehen und erst nach und nach merken, dass sie zu Opfern auserkoren sind, „entbehrlich“, wie es die Staatssekretärin nennt, die den Werftbesitzer bei der endgültigen Privatisierung der Werft unterstützt, ein fast komisch absurdes Paradox im Zeichen des Thatcherismus.
„The Last Ship“ in Koblenz zeigt einmal mehr die Leistungsfähigkeit eines gut geführten Mehrspartenhauses. Die Aufführung öffnet spür- und hörbar die Herzen der 100 zugelassenen Zuschauerinnen und Zuschauer in einer Intensität, die vielleicht auch der Freude geschuldet ist, endlich wieder ins Theater gehen zu dürfen.
Als Intendant Markus Dietze zu Beginn vor den Vorhang tritt, wird er gefeiert wie ein Popstar. Dabei hat er eigentlich Ungutes zu verkünden. „Analoges Theater macht analoge Probleme.“ Der Darsteller des Gideon Fletcher ist, nicht an Corona, erkrankt. Und Ersatz ist eigentlich nicht zu finden, weil das Stück ja in Deutschland noch nie gespielt worden ist. Der Tenor Steven Ebel ist am Nachmittag aus Mainz gekommen, hat das ihm unbekannte Stück in drei Stunden gelernt und singt die große Rolle aus dem Graben, die Regieassistentin Britta Bischof agiert auf der Bühne, der Intendant persönlich spricht die Dialoge aus der Proszeniumsloge. Die ungewöhnliche Konstruktion trägt – Ebel singt sogar sehr nuanciert – und fügt sich in den Abend: Klare Abläufe und Figurenerfindungen ohne Kitsch, handwerklich perfekt inszeniert und eingeübt, authentisch und leidenschaftlich ausagiert. Ein kleines, so altmodisches wie zukunftsträchtiges Theaterfest.