Foto: Eva Baumann mit Puppe in ihrer Kreation „Schattenkind" © Daniela Wolf
Text:Manfred Jahnke, am 21. Mai 2021
Auch wenn sie gerade im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit steht, ist die Diskussion über die Gewalt, die Mütter ihren Kindern antun können, weitgehend tabuisiert. Die Kinderrechtskonvention der UNO, die Kindern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung zuspricht, ist zwar mit großer Verspätung in das Grundgesetz aufgenommen worden, aber in der Praxis, wie das politische Handeln in der gegenwärtigen Pandemie zeigt, nur unvollkommen angekommen. Auch auf der Bühne wird das Thema der mütterlichen Gewalt nur selten aufgegriffen. Um so wichtiger ist es, wenn nun die Choreografin, Tänzerin und Performerin Eva Baumann ein „Kammertanzstück über mütterliche Gewalt“ vorstellt, in dem sie selbst als Tänzerin mit einer lebensgroßen Gliederpuppe agiert. Deren Gesicht besteht nur einer ovalen Form, die so zur Projektionsfläche für die Zuschauer werden kann (Puppenbau: Jördis Meister).
Drei Würfel, die verschieden angeordnet werden können, ein Stuhl, der am Anfang umgeworfen auf der Bühne liegt, ein Flaschenzug mit mehreren Seilen und Leuchtstäben, die diagonal den Raum queren, sowie im Hintergrund eine Projektionsfläche definieren den Aktionsraum. Am Anfang – wie auch am Ende – ist im Video eine auf den Rücken gefallene Fliege zu sehen, die sich frei zu strampeln versucht. Zunächst scheint Eva Baumann, in grauer weiter Hose und einem langärmeligen Schlabbershirt gekleidet (Kostüm: Karin Wittig), allein auf der Bühne. Sie hockt auf dem Bühnenboden, mit heftigen Hand- und Körperbewegungen die Mittel des Ausdruckstanzes umsetzend. Erst dann erscheint hinter den Würfeln die Gliederpuppe, die von ihrer Macherin Heiderose getauft wurde. Zunächst mit dem Rücken zum Publikum sitzen beide da: Das Bild einer liebevollen Zweisamkeit entsteht, die Mutter flüstert dem Kind etwas ins Ohr, bevor sich die Szene wieder auflöst.
Kein Wort wird gesprochen, schöne wie betroffen machende Bilder drücken sich allein durch das gewählte Bewegungsrepertoire und durch die Beziehung zwischen Tänzerin und Puppe aus. Wenn am Anfang deutlich zu sein scheint, dass sich hierin eine Mutter-Kind-Verbindung spiegelt, unterstützt noch dadurch, dass die Puppe durch die Tänzerin animiert werden muss, so wird im Verlaufe der Aufführung diese Relation verwischt. In dem Maße, wie die Figur an Eigenleben gewinnt (hier wird das Outside Eye des Figurenspielers Jan Jedenak sichtbar), ist nicht mehr deutlich auszumachen, wer Mutter, wer Kind ist. Die Gewaltverhältnisse changieren im Wechsel zwischen liebevollen Gesten und subtilen Unterdrückungshandlungen. Diese gegenseitige Abhängigkeit zeigt sich besonders deutlich, wenn beide durch den Flaschenzug miteinander verbunden sind und so im Bild festgehalten wird, wer grade die Gewalthoheit hat. Wenn Eva Baumann in dessen Fäden hängt, wird sie selbst für einen Augenblick zur Marionette.
Sie wechselt in ihrem Spiel zwischen Momenten die durch schnelle Bewegungen gekennzeichnet sind, und langen stillen Phasen, in denen nicht nur die Tänzerin die von ihr geschaffene Szenerie beobachtet, sondern es auch dem Publikum ermöglicht wird, die codierten Bilder für sich zu entschlüsseln und auf sich einwirken zu lassen. Immer wieder drückt sich in ihren körperlichen Aktionen die Sehnsucht nach Nähe aus, auf die sich wortwörtlich Schatten werfen (Lichtregie: Doris Schopf), die überlebensgroß werden und diese Nähe wieder in graue Tristesse auflösen. Eine besondere Rolle hat dabei der Soundtrack der niederländischen Komponistin Evelien van den Brock, rhythmisch, zunächst in einzelne Töne gegliedert, dann in elektronisch erzeugte Klänge übergehend, in denen wiederum kleine melodische Abfolgen versteckt sind. Sobald eine Situation bedrohlich zu werden beginnt, intensiviert sich die Musik, gewinnt an Lautstärke und regiert derart die Bewegung auf der Bühne und die Gefühle des Publikums.
Eva Baumann ist ein Abend mit starken Bildern gelungen, die betroffen machen und drüber nachdenken lassen, was wir bewusst und unbewusst Kindern antun.