Foto: Sarah Brady (Governess) und Jakob Geppert (Miles) © Sandra Then
Text:Andreas Falentin, am 24. April 2021
Henry James‘ Novelle „The Turn of the Screw“ ist oft verfilmt worden, am bekanntesten vielleicht mit dem Kinofilm „The Innocents“ von Jack Clayton mit Deborah Kerr aus dem Jahr 1961 und der aktuellen Netflix-Serie „The Haunting of Bly Manor„. Das progressiv steigende Erzähltempo, das der Autor aus der immer stärkeren Vermischung von objektiver und subjektiver Wahrnehmung gewinnt, die man heute gerne Realitätsverlust nennt, lässt den Stoff gerade für die filmische Darstellung als geeignet erscheinen, zumal mit seinen Geisterescheinungen und Horroreffekten. Dazu kommt das Personal:: eben Geister, per se verletzliche Kinder und eine womöglich noch verletzlichere Protagonistin, eine Gouvernante, die auf ein von jeder Hilfe abgeschnittenes, abgelegenes Gehöft gesandt wird, um die Kinder Flora und Miles zu erziehen und vor Schaden zu bewahren. Wer also Brittens Oper streamt, muss sich eigentlich auch an dem filmischen Umgang mit dem Stoff messen lassen.
Am Staatstheater Hannover entsteht das Drama, entsteht der Thriller an diesem Abend direkt aus der Musik. GMD Stephan Zilias findet mit seinem 13köpfigen Orchester (elf Solo-Instrumene, nur die Violine ist doppelt besetzt) eine erstaunlich vielfältige Klangwelt vor, stzrukturiet diese prägnant und dynamisch und arbeitet viele Details heraus. Und er erzählt Geschichten, etwa die von der Kommunikationshemmung der „Governess“, der namenlosen Protagonistin. Wenn sie in den ersten Szenen Dialoge beginnt, hören wir mehrmals nur eine schlanke Solovioline. Sobald ihr Gegenüber, meistens die Haushälterin Mrs. Grose, ins Gespräch eintritt, fächert Zilias den Klang auf, bindet die drei oder vier einsetzenden Instrumente geradezu sinfonisch zusammen und zeigt so quasi mit dem Finger auf die Defizite der Hauptfigur. Immer wieder insistiert der Dirigent, gerade in den kurzen instrumentalen Zwischenspielen auf der Modernität, der Experimentierlust der Komposition. Auch Zilias‘ Umgang mit den Solisten-Ensemble fasziniert. Die Ensembles meisselt er exakt, geradezu kalt schimmernd aus der Partitur, schenkt ihnen aber gleichzeitig eine ganz ungewöhnliche, bemerkenswert flexible Leuchtkraft. Dazu führt er die Sängerinnen und Sänger so behutsam wie fordernd immer wieder aus der Komfortzone des Schöngesangs heraus. Dann wächst den Stimmen eine in ihrer Intensität fast anstössige Verletzlichkeit zu, bis der Dirigent siet sicher zurückgeleitet. Dass das alles so wahnsinnig gut klingt, liegt sicher auch an der tontechnischen Betreuung durch den NDR, der die Aufführung bereits Ende März alsn Radiokonzert gesendet hat.
Immo Karamans Inszenierung hat es etwas schwerer. Gerade bei diesem Kammerspiel ist es eine echte Aufgabe, die Figuren stets auf drei Meter Abstand zueinander zu halten, wie es offensichtlich die niedersächsische Corona-Verordnung vorsieht. Dazu war wohl auch ein Bühnenbild im engeren Sinne nicht möglich oder erlaubt. So strukturiert Thilo Ulrich den Raum durch einige markante Versatzstücke, vor allem aber durch Zwischenvorhänge, die reibungslose Szenenübergänge ermöglichen und fast immer die Form eines hauses aus fünf Strichen zeigen, ein Zeichen fürs Eingesperrtsein wie für die Sehnsucht nach Behausung. Alles ist hier schwarz-weiss, die Kostüme von Fabian Posca, die Hintergründe, die hell geschminkten Gesichter. Wir denken an den expressionistischen Horror-Stummfilm, aber auch an Robert Wilsons Zauberwelten, denen hier irgendwie ihr Farbspektrum abhanden gekommen sit.
Karamans Personenführung ist solide, oft sehr genau gearbeitet. Es fehlt ihr jedoch ein wenig an Konsequenz. Mal wird psychologisiert, mal verhalten sich die Sängerinnen und Sänger zur Musik im Raum, in wenigen Momenten wird auch Effekt in dekorativen Bildern gesucht, etwa beim Treppensteigen. Das Wechselspiel von Konkretisierung und Abstraktion wirkt im Ganzen letztlich etwas beliebig. Auch weil Großaufnahmen – für die filmische Umsetzung wird im Programmheft übrigens niemand genannt – eben viel verraten über die Machart einer Inszenierung, was es weiter erschwert einen Zusammenhang zwischen theatralem Overacting und filmischem Ausdrucksminimalismus herzustellen.
Das Ganze wird zusätzlich erschwert durch die Tatsache, dass sich die Schraube bei Britten und seiner Librettistin Myfanwy Piper zu Beginn schon erheblich weiter gedreht hat als in der Vorlage von Henry James. Wenn wir hören wollen, lässt uns Stephan Zilias bereits zu Beginn des ersten Aktes (fast) alles hören. Die Governess ist noch auf dem Weg, Zug oder Kutsche rattert in regelmäßigem, leicht verzerrten Rhythmus durchs Kammerorchester, aber gleichzeitig ist Unsicherheit, Orientierungslosigkeit fast mit den Händen zu greifen – genauso wie Ambition. Das Ende scheint hier bereits vorgezeichnet.
Womit wir wieder bei der Musik wären. Und bei einem großartigen Ensemble, indem Sarah Brady als Governess klanglich fast ein Chamäleon gibt. Sie artikuliert fantastisch, singt differenziert und dynamisch, gestattet sich aber wenig Farbnuancen, gestaltet bewusst nüchtern und wird gerde so zum Zentrum des Klangs. Um sie herum können, müssen sich alle stimmlich individuell profilieren. Da kostet gleich zu Beginn Marco Lee seine wenigen Prologzeilen geradezu cool aus, fährt mühelos und elegant seine Gesangslinie ab. Barno Ismatullaeva als weiblicher Geist beeindruckt vor allem durch energetische Wucht, Weronika Rabek als ungewohnt erwachsene Flora lässt mit überraschender Schärfe aufhorchen. Sunnyboy Dladlas Geister-Tenor glaubt man die Verführungskraft wie die Brutalität und Jakob Geppert als Miles ist bereits im jungen Alter ein ausstrahlungsstarker, vollwerrtiger Interpret, hat musikalisch viele Nuancen zur Verfügung, zeigt immer wieder plastisch, nicht nur stimmlich, wie die Kruste von Härte und Ignoranz aufplatzt. Zuir echten Gegenfigur der Protagonistin wird an diesem Abend Monika Walerowicz als Mrs. Grose, Besitzerin einer kostbaren Alt-Stimme mit gleißenden Höhen und gewaltigem Fundament und eine Schauspielerin von Graden. Hier bedeutet jede Bewegung etwas.
Filmisch wird hier solide gearbeitet. Ruhig und stringent ist die Kameraführung, eigene Wege geht sie nicht. Ob und wie der Medientransfer ins Regiekonzept eingebunden war, lässt sich so nicht vermuten. Verließ man am Premierenabend, an dem nicht live, sondern aufgezeichnet gestreamt wurde, was für die Build- und Tonqualität sicher gut war, den Vollbildmodus, konnte man eine von Stephan Zilias und Chefdramaturgin Regine Palmei moderierte Chat-Line verfolgen, die gemischte Gefühle erzeugte. Zilias‘ satzkurze musikalische Erläuterungen bereichern den Abend sehr, Palmeis öffentliches Lob von Produktion und Mitwirkenden mag übliche PR sein, berührt aber peinlich. Da sehnt man sich umsomehr danach, endlich wieder im Parkett zu sitzen.