Foto: „Das Musikgeschäft“ - derzeit unerreichbarer Alltags-Schauplatz. © David Beecroft
Text:Antonia Ruhl, am 14. Februar 2021
Der Versuch, das an diesem Abend Erlebte auf einen Punkt zu bringen, wäre von vorneherein zum Scheitern verurteilt: Vielschichtig und zahlreich sind die Perspektiven auf akustische Wahrnehmung, Klang, seine Produktion und Rolle im menschlichen Leben, die diese Performance im Laufe von beinahe dreieinhalb Stunden entwickelt, genauer: immer wieder flüchtig aufscheinen lässt. Das Team um Komponist* Neo Hülcker, der* gemeinsam mit Bastian Zimmermann auch die Regie verantwortet, stellt dafür auf der Bühne des Berliner Radialsystems einen gerade nicht (nur) künstlerischen, in der Regel alltäglich begehbaren Ort nach, an dem Mensch Klang ungestört erzeugen, erkunden oder sich einfach nur tummeln kann: „Das Musikgeschäft“ als hierarchiefreier, wenig leistungsorientierter Raum lässt Menschen wie Klänge friedlich koexistieren, aber auch unbeabsichtigt in Dialog und Konkurrenz zueinander treten.
Mit viel Liebe zu aufeinander abgestimmten Details haben Michael Kleine und Lisa Fütterer ebendieses „Musikgeschäft“ für die gleichnamige Livestream-Uraufführung eingerichtet. Als freakiger Provinzladen kommt es zunächst daher, mit Troddelvorhang, „Betriebsfamilienfotos“ und ausgestopftem Hund, Uralt-Computer auf der Theke, Musikkeller, bastelverdächtiger ‚Reparaturecke‘ sowie einer umfänglichen Palette an mehr oder minder verbreiteten Instrumenten, Gitarren, Schlagwerk, Alphorn, Banjo und Mandoline. Die „Figuren“, die das „Musikgeschäft“ betreten werden, stammen aus so unterschiedlichen Kontexten wie die neun Performer*innen selbst, die ursprünglich etwa von Schauspiel- oder Musikhochschulen kommen und die das Interesse am interdisziplinären Kunstschaffen zusammenführt.
Da sind der vergeistigte Musikliebhaber im Rentenalter, der sich Partituren lesend oder andächtig Instrumente betastend die Zeit vertreibt; die berühmte Sängerin Valerie (Renay); die renommierte Instrumentalistin Carola (Schaal), kurz vor einem Konzert in eine Notlage geraten; das Schlagzeug-Wunderkind David (Nemtsov) mit Schulranzen auf dem Rücken; die Ehrenamtliche, die für ihre Kirchengemeinde dreißig Blockflöten bestellt. Die Bandbreite der Beweggründe, das Geschäft aufzusuchen, entspricht den unzähligen Bereichen, mit denen die Musik zwangs- oder wahlverwandt ist, wie Starkult und Virtuosentum, Technisierung und dem Markt, aber auch Kontemplation, emotionaler und gemeinschaftlicher Geborgenheit, körperlicher Verausgabung und intellektueller Leidenschaft. Im „Musikgeschäft“ scheint es dabei in erster Linie um noch viel Fundamentaleres zu gehen: um die pure Freude am spezifischen Material, das sich durch eine bestimmte Berührung in Bewegung, ja Schwingung versetzen, zum Klingen bringen lässt.
Besonders im ersten Teil der Performance kann man die permanente Produktion alltäglich konnotierten Klangs, der im Werden schon vergeht, aufmerksam verfolgen. Wenn Heinrich (Horwitz), Armin (Wieser) und Sabrina (Ma) nach der Öffnung ihres Ladens erst einmal jede Menge herumzuräumen haben – und sich übrigens beeindruckend unprätentiös im Raum bewegen –, ist das nicht nur extrem amüsant, auch weil die ruhige Kameraführung den Blick auf witzige, sorgsam platzierte Details lenkt (Filmteam: Christina Voigt, Ranav Adhikari). Vor allem scheint die akustische Wahrnehmung die visuelle spielend zu überholen; wirkt das Geschehen für das Auge recht überschaubar, kann das Ohr seine Gleichzeitigkeiten viel feiner differenzieren (geflüsterte Unterhaltungen, Schritte, Abstellen und Auspacken von Gegenständen, Tastaturtippen etc., Klangregie: Janine Eisenächer). Ein lustvoll ausgekosteter Höhepunkt ist etwa das minutiöse Auspacken eines Pakets für einen Unboxing-Clip; Paketband, Karton, Styropor entfalten unter den Händen Heinrichs und Armins ungeahnt kraftvolle Klangqualitäten.
Erst im späteren Verlauf des Abends versus Arbeitstages im Geschäft ergeben sich zunehmend Begegnungen zwischen den Kund*innen, dürfen die Performer*innen ihr instrumentales Können unter Beweis stellen (wie Klarinettistin Carola Schaal, Saxophonist Florian Bergmann und David Nemtsov am Schlagzeug). Aber selbst als sie zu mehreren ein anspruchsvolles Rhythmus-Konzert liefern und stimmungsvolles Licht doch nochmal Theatersinnlichkeit in das „Musikgeschäft“ einziehen lässt, schützt die dem Alltag entlehnte Anordnung davor, der Intensität eines „richtigen“ Theatermoments vergeblich nachzujagen.
Dass auch dem realen Publikum – also uns zuhause vor den Bildschirmen – eine spezielle Funktion zugewiesen wird, deutet der Untertitel der Performance schon an: „Online-Musiktheater mit Teleshopping“. Basierend auf einer Idee Sven-Åke Johanssons, suchen die Betreiber*innen des „Musikgeschäfts“ potentielle Kund*innen via Youtube zu erreichen und veranstalten mehrere Teleshopping-Aktionen, die uns „kings, queens and criminal queers“ zu einem Anruf in die Sendung und (realen!) Impulskäufen anregen sollen (und es auch tun). Als einmalige, nichtausschlagbare Angebote beworben, offenbart dieser „Fancy Saturday“ erneut die Vielfalt der Musikverkaufsobjekte von der Fanny-Hensel-Partitur bis zur Rhythmusbanane. Wie im Theater ist auch auf dem Fernsehmarkt Behauptung alles, eine knallpink gefärbte Beethoven- wird als Olga-Neuwirth-Büste verkauft. Wunderbar!
Doch auch wenn das Publikum reichhaltige Alternativen erlebt zum gewohnten hochkonzentrierten Musiktheatergenuss, mitunter geradezu explizit zum Pausieren eingeladen wird, zieht sich der Abend bisweilen in quälende Länge, stößt das Online-Theater massiv an seine Grenzen, eben weil das Verhalten des Publikums für die Performancesituation folgenlos bleibt. Wie reizvoll wäre es, wenn die Zuschauer*innen die parallelen performativen Vorgänge vor Ort ergänzen könnten! So bleibt die vage Hoffnung auf ein zukünftiges hybrides Format dieses lohnenswerten Abends, in dem wie in einer Fernsehshow zumindest ein Teil der Zuschauer*innen anwesend ist…