Foto: Findet parallel per App und Livestream statt: „Customerzombification 1 / Mein fremder Wille“ am Theater Vorpommern. © Peter van Heesen
Text:Jan Fischer, am 20. Januar 2021
Tahnse hat keinen so guten Stand im Jahr 2030. In einer Welt, in der das Leben fast ausschließlich online stattfindet, gehört er zur Unterschicht. Seine Werte für „Offenheit“ und „Extraversion“ sind so, wie sie aus seinen Aktivitäten im Netz berechnet werden, nicht sonderlich gut. Dafür aber hat der Faktor „Neurotizismus“ einen hohen Wert, der geistige Instabilität angibt. Nun ja. Man muss ja mit dem arbeiten, was man bekommt.
In „Customerzombification 1 / Mein fremder Wille“, einer Koproduktion zwischen dem Theater Vorpommern und der freien Gruppe Borgtheater, bekommt jede*r Zuschauer*in eine Figur mit je unterschiedlichen Werten zugewiesen. Allen ist allerdings gemeinsam, dass sie Follower von Alice sind, ihres Zeichens „Influencerin für digitale Aufklärung und Lebensverbesserung“, die wiederum auf der Suche nach den Daten ihrer Schwester ist, die irgendwo in den tiefen virtueller Serverkellern lagern. Wir, die Follower, sollen ihr dabei helfen, zu diesen Daten zu gelangen. Und sie letztendlich zu löschen.
Das Geschehen findet dabei auf zwei Bildschirmen statt. Auf dem einen ist ein Livestream zu sehen, in dem Christiane Waak als Alice vor einem Greenscreen durch allerlei virtuelle Räume läuft, immer tiefer ins Unterbewusstsein der Künstlichen Intelligenz eindringt, die offenbar alles steuert. Auf dem anderen Bildschirm müssen die Zuschauer*innen immer wieder Entscheidungen treffen, um Alice auf ihrem Weg zu helfen. Manchmal kann auch mit ihr gechattet werden.
Spannend ist an „Customerzombification 1 / Mein fremder Wille“ vor allem das Format. Ein Entscheidungsbaum, wie man ihn in einem klassischen Textadventure finden mag, trifft auf eine Live-Performance, die sich anhand der getroffenen Entscheidungen dynamisch verändern kann. Dass die Handlung dabei online spielt und online gespielt wird, ist dabei natürlich eine clevere Idee.
Leider verschenkt „Customerzombification 1 / Mein fremder Wille“ aber sowohl erzählerisch als auch technisch viel Potential. Zwar ist Alice beispielsweise mit diversen Gegenständen ausgestattet, die auch hin und wieder Upgrades erhalten, so richtig weiter bringen sie – Gegenstände wie Upgrades – die Geschichte allerdings nicht. Die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, wirken oft willkürlich und haben meist eher etwas mit Raten zu tun als mit tatsächlichen Entscheidungen, bei denen zumindest die Voraussetzungen bekannt sind. Die unterschiedlichen Werte zu Offenheit, Extraversion und Neurotizismus der eigenen Figur verändern sich zwar anhand der getroffenen Entscheidungen, beispielsweise bei der Frage, ob Daten jetzt gelöscht werden sollen oder nicht, haben aber keinerlei Auswirkungen auf die Figur oder Handlung. Hier wäre viel möglich gewesen, gerade auch Dinge, die in einem Theatersaal nicht möglich sind. Warum nicht die Entscheidungsfreiheit der Zuschauer*innen mit schlechtem Social Score in ihrer Entscheidungsfreiheit einschränken, sodass es eine Motivation gibt, diese Daten mit ihren Entscheidungen zu verändern? Warum nicht bestimmte Handlungsstränge erst freischalten, wenn Alice‘ Gegenstände bestimmte Upgrades erhalten haben? So fehlt der Inszenierung ein wenig die Dringlichkeit.
Dazu kommt, dass die Welt der Inszenierung mit ihrem dystopischen Überwachungsnetz, ihrem datenfressenden Social Scoring-System, Hyperkapitalismus und ihren Anleihen an den Transhumanismus nicht so ausformuliert ist, wie sie sein könnte. „Customerzombification 1 / Mein fremder Wille“ bleibt dabei unentschieden, ob es gerne Kapitalismuskritik üben möchte – „Wir wissen nicht mehr, ob das Produkt uns oder wir dem Produkt gehören“, sagt Alice einmal – oder sich doch lieber über Datenkraken ereifern möchte. Vielleicht auch beides gleichzeitig. So macht die Inszenierung zwar vor, wie eine interaktive Online-Inszenierung mit Gaming-Anteilen aussehen könnte, denkt das allerdings auf technischer und erzählerischer Ebene nicht bis zu einem befriedigenden Ende.