Foto: „Eight Songs for a Mad King“ digital: Holger Falk als wahnsinniger König George III. und Statisterie. © Wilfried Hösl
Text:Roland H. Dippel, am 12. Januar 2021
Würde man den Beginn des ersten Lockdowns (14. März 2020) mit dem Beginn der Corona-Spielzeit Nr. Eins gleichsetzen, endete diese Ende Januar. Diese Spielzeit zeichnete sich durch vor kurzem noch undenkbare Umschichtungs- und Anpassungsprozesse aus; es wäre eine Spielzeit, in denen die Theater das Laufen in digitalen (Selbst-)Inszenierungen lernten und das Theater-Streamen erstmals reguläre Gesetzmäßigkeiten entwickelte. Parallel wachsen die Ernüchterung und Trauer darüber, dass Kulturarbeit und Kulturschaffende möglicherweise für eine säkulare Gesellschaft doch nicht so lebensnotwendig sind wie vor Corona geglaubt. Der breite Strom der Marketing-Kultwörter vom „Verführen“, „Verzaubern“, „Entrücken“ verdünnt zum Rinnsal.
Viele Abende mit von Edita Gruberová und anderen Étoiles gesungenen Wahnsinnsarien hatten das Publikum im Münchner Nationaltheater verführt, verzaubert und entrückt. Das scheint jetzt mindestens eine halbe Ewigkeit entfernt. Auch diese Wiederaufnahme von Peter Maxwell Davies‘ 1969 uraufgeführtem dramatischen Liederzyklus verzückt und entrückt nicht, sondern ist total ver-rückt! Durch das Textbuch von Randolph Stow, die packende Musik und die performative Visualisierung auf der großen Bühne: Man erlebt mit technischer Brillanz den schmerzlichen Abgesang auf das physische Theater, dem die Bayerische Staatsoper als Satyrspiel am 18. Januar Lehárs „Schön ist die Welt“ mit Julia Kleiter, Max Hopp und Sebastian Kohlhepp folgen lässt. Doch das operettige „Glücklich ist, wer vergisst“ kennt die digitale Welt nur in Ausnahmefällen. Digitale Bühne frei also für noch mehr Verrücktheiten!
Verrücktheit II: Aus der Corona-Premiere für 50 anwesende Zuschauer am Festen Samstag des 13. Juni 2020 wurde als Montagsstück für den 11. Januar ein digitales Geistertheater. Jetzt sitzen lebensgroße Puppen mit Atemmasken auf der bestuhlten Hauptbühne des Nationaltheaters.
Verrücktheit III: Die virtuose Kamera-Choreographie minimiert den großen Hufeisen-Zuschauerraum des klassizistisch bewahrten Zuschauerraums zum vormodernen Tempel in Rot und Gold. Kurz erscheint die Königin in der Königsloge und ist dem seiner Sinne nicht mächtigen König so fern wie dem digitalen Publikum. Denn die szenische Normalität ist das Halbdunkel auf der Spielfläche.
Verrücktheit IV: Der wahnsinnige König George III., der den Vögeln das Singen lehrt, zertrümmert – wie im Libretto gefordert – eine Violine. Das funktionsuntüchtige Instrument gleißt in Großaufnahme. Schöne neue digitale Welt.
Das fabelhafte Kamerateam lässt keines der aberwitzig intensiven Hingabeangebote des genialen Baritons Holger Falk ungenutzt. Vieldeutiger und noch packender als im Juni wirkt jetzt der organisierte Auf- und Abmarsch der systemrelevanten Pflege-Soldateska in weißen Kitteln. Andreas Weirich inszenierte das irrsinnige Verhalten des Königs George III. von England als Misere einer Pop-Ikone. Erst ist das Gesicht des Sängers mit Stoffstreifen umwickelt wie das Selbstporträt Gottfried Helnweins auf dem Scorpions-Cover von „Blackout“. Später spreizt sich der Sänger im violetten Pailletten-Gehrock mit Flokati-Kragen wie Klaus Nomi vor seinen Fans. Es fehlt nur das den Tumult von heißer Musik und kollektiver Ekstase aufheizende Mikro. Aber man starrt in den fast leeren Raum und auf hart arbeitende Orchesterspezialisten. Der unverzichtbare Dirigent Olivier Tardy ist weggedimmt.
(Fehl-)Diagnosen der physischen und psychischen Krankheiten von George III. sind ein journalistischer Evergreen (1738-1820) für die BUNTE, die Zeit und das Ärzteblatt. Weirich bezieht sich auch auf 2018 erstmals publizierte Quellen, von denen der Komponist Sir Peter keine Ahnung haben konnte. Im Jahr 1788 schrieb der königliche Arzt Francis Willis: „HM (His Majesty, Anm. d. Red.) wurde so unregierbar, dass auf die Zwangsweste zurückgegriffen werden musste. Seine Beine waren gebunden, und er war über seiner Brust gesichert.“ So sieht man den Protagonisten – ein breiter Ledergürtel ersetzt die Zwangsweste. Damit sind Weirich und Falk definitiv näher an Fakten als am spekulativen Reinmenschlichen. Sogar der historische Hintergrund dieser acht Gesänge und ihrer trügerischen Archaismen ist zum Verrücktwerden. George III. war ein Zeitgenosse der permanenten Paradoxien aus dem untergehenden Absolutismus, der Morgenröte republikanischer Ideen und der politischen Restauration.
Die Sehnsuchtsflagge des physischen Musiktheaters reißt der Sänger Holger Falk mit geballter, unerschöpflicher Potenz nach oben. Peter Maxwell Davies‘ Partitur ist alte romantische Opernschule darin, dass die Musik zur gesteigerten Verrückung des Protagonisten immer schöner, intimer und wahrhaftiger wird. Das Perfide daran: Davies verdammt seine Bariton-Interpreten zu filigranen Piani in extremer Counterhöhe und allen sanglichen Sperenzchen einer männlichen Primadonna. Falk meistert vor den verräterischen Mikrofonen diesen vokalen 35-Minuten-Sprint faszinierend, perfekt und anrührend. Auch dadurch wird diese digitale Transformation zu einem Wahnsinnsgeschenk an die Staatsopern-Fangemeinde. Schade nur, dass die alchemistisch kunstvolle Reaktion von Adrenalin mit Testosteron und das coole Ambiente über digitale Kanäle keine so starken Sinnesreibungen an Zuschauern bewirken wie im echten Theater.
„Eight Songs for a Mad King“ ist als Video on Demand zu sehen via staatsoper.tv.