Foto: Jenny König als Orlando © Stephen Cummiskey
Text:Sophie Vondung, am 28. November 2020
„Sollen wir Orlando tadeln?“, fragt die Erzählerin, nachdem ihre Hauptfigur die Königin in den Liebestod getrieben hat. „Das Zeitalter war das elisabethanische. Ihre Moralvorstellungen waren nicht die unseren: noch ihre Dichter, noch ihr Klima, nicht einmal ihr Gemüse.“ Dieser Satz verrät schon viel darüber, was für ein Stück hier bevorsteht. Temporalitäten und Geschlechterrollen überschreitend, erzählt es in einem ironischen, ins Lächerliche kippenden Ton die Geschichte von Orlando, der als englischer Adeliger durch die Jahrhunderte reist, dabei zur Frau wird, und um seine Freiheit ringt.
Angeschlagen wird dieser Ton von der sogenannten Biographin (Cathlen Gawlich). Oben rechts im Bild spricht sie in einem beleuchteten Tonstudio in ein Mikrofon. Unten auf der Bühne wuseln Spielende, Kamera- und Tonleute und produzieren live den Film, der simultan auf der Leinwand über ihnen zu sehen ist. Diese Multimedialität ist zu Mitchells Markenzeichen geworden. Während oben noch die aktuelle Szene läuft, bringen sich die Spielenden unten bereits in Position für die nächste Kameraeinstellung. So wird links noch der Hinterkopf der zusammengebrochenen Königin (Ilknur Bahadir) gefilmt, während sie rechts bereits im Sterbebett liegt. Die Spielenden verharren in ihrer Szene, bis die Kamera von ihnen ablässt, reißen sich das Kostüm vom Leib, legen das nächste an und hasten an ihre neue Position. Diese logistische Höchstleistung ist faszinierend zu beobachten und erscheint noch erstaunlicher, wenn beim Schlussapplaus auf der hell erleuchteten Bühne all die bunten Markierungen auf dem Boden sichtbar werden, die so zahlreich sind, dass man auf den ersten Blick meinen könnte, jemand hätte Konfetti auf die Bühne gestreut.
Die Lebensgeschichte Orlandos konzentriert sich in dieser Inszenierung, die im September 2019 an der Schaubühne Premiere feierte, stark auf dessen Liebesabenteuer. Die zahlreichen Geliebten stellt die Erzählerin nacheinander vor, während diese frontal in die Kamera flirten. In einer englischen Adelsfamilie aufgewachsen, flieht Orlando schließlich vor einer aufdringlichen Verehrerin nach Konstantinopel, wo er nach einem siebentägigen Schlaf als Frau erwacht. „Und so müssen wir ‚ihre‘ statt ‚seine‘ sagen, und ‚sie‘ statt ‚er‘“, stellt die Erzählerin unbeeindruckt fest. Orlando freut sich unterdessen nackt vor dem Spiegel auf- und abspringend über ihre hüpfenden Brüste. Aber dabei bleibt es nicht: Orlando kämpft um ihre Freiheit, die nun dank ihres neuen Daseins als Frau eingeschränkt ist. Nicht einmal alleine spazieren gehen darf sie, so ärgert sie sich, und streckt den sie bedrängenden Herzog kurzerhand mit ihrem überdimensional ausgestellten Rock nieder. Als die Erzählerin, die gerne mal in die Handlung eingreift, Orlando vorschreibt, über die schnöden Witze eines Verehrers zu lachen, erntet sie vorwurfsvolle Kamerablicke.
Hochgradig multimedial, überschreitet „Orlando“ also alle Grenzen: Zwischen Film und Theater, zwischen On Stage und Backstage, zwischen Performance und Publikum, nicht zuletzt zwischen männlich und weiblich. Auch die Grenzen der Zeit überschreitet diese Inszenierung andauernd. So trägt Orlando eine Lederjacke zum elisabethanischen Kleid, der Kritiker Nicholas Greene (Carolin Haupt) stolziert in Pelzmantel und Hipsterbart herein, und anstatt sich mühsam aufs Pferd zu schwingen, benutzt Orlando gerne mal Auto oder Flugzeug. Diese Multitemporalität schlägt sich auch in der Sprache nieder, die sich nicht so ganz auf eine Zeit festlegen will. „Treulose Frau, wankelmütige Verräterin, aah du Fotze“, ereifert sich Orlando etwa über seine Geliebte Sasha (Isabelle Redfern), nachdem sie ihn hat sitzen lassen.
Wenn all das multimediale Treiben schon in der Live-Version überwältigt, so verstärkt sich diese Wirkung im Stream noch. Während der Blick im Theater frei von der Bühne zur Leinwand zur Erzählerin wandern kann, wird er im Stream von den Einstellungen eingeschränkt, die mal das eine, mal das andere zeigen. Zu den zügig wechselnden Kameraeinstellungen des Bühnen-Films kommen also die der Aufzeichnung hinzu. Einen Film abzufilmen, während er gerade auf der Bühne produziert wird, ist eine Wahnsinnsaufgabe. Dass man das als Zuschauende spürt, schmälert das Seherlebnis. So dient die gigantische Aufnahme-Maschinerie hier weniger der Geschichte, sondern überrollt sie eher.