Foto: Tanz-Uraufführung online: "All for one and one for the money" © Thomas Schermer
Text:Verena Blatz, am 21. November 2020
In Richard Siegals Online-Uraufführung von „All for one and one for the money“ geht es um die Suche nach der eigenen Identität in unserer konsumorientierten Gesellschaft. Die Produktion hätte unter ‚normalen‘ Bedingungen schon im April unter dem Titel „One for the money“ Premiere gehabt. Aufgrund der Schließung der Theater hat Siegal das Stück neu inszeniert: als rein für den virtuellen Raum konzipierte Live-Performance.
Wir Zuschauer können wählen zwischen drei Streams, die beliebig wechselbar sind. Durch diese individuelle Auswahl sieht jeder eine andere Aufführung und hat Einfluss auf die individuelle Dramaturgie des Tanztheaterabends.
Was ist zu sehen in den drei Streams? Ein Gamer lädt andere dazu ein, mit ihm zu spielen. Virtuelle Dollarzeichen schweben über und vor ihm und er fordert uns auf, Bitcoins zu kaufen. Er spielt wechselnd bekannte Computerspiele, wie „Among us“ und „Mindcraft“. In einem anderen Stream sieht man einen anderen Spieler, der eher alleine spielt, zum Beispiel „Sims“, ein Spiel, in dem eine virtuelle Welt erzeugt wird mit Figuren, deren „Leben“ der Spieler steuert. Ihm selbst sitzt eine virtuelle Katze auf dem Kopf. Wir sehen ihm dabei zu, wie er sehr konzentriert Figuren ‚erstellt‘: Jedes äußerliche Detail wird vor unseren Augen ausgewählt.
Und es gibt den Stream, in dem getanzt wird: Die Tänzer tanzen zu Beginn auf die Kamera zu. Wir kommen ihren Gesichtern ganz nah, als könnten wir sie ansehen. In demselben Stream erscheint das Wort „you“ und etwas später „are“. Wie können wir diesen Satz für uns beenden? Das ist eine der Fragen, die dieses Stück stellt. Zusätzlich gibt es einen vierten, nicht für alle sichtbaren, Stream: Gegen Zahlung können andere Tanzsequenzen und Tänzer, die sich unterhalten, gesehen werden. Mehr Tanz und ein Blick „backstage“ gegen mehr Geld? Immer wieder wird uns in „All for one and one for the money“ unser eigenes Konsumverhalten vorgehalten: Einer der Gamer hat wortwörtlich sein Gesicht verloren; es ist ein weißer Fleck. Er spricht über die hohen Summen, die mit Videogames verdient werden. Dann sehen wir ein YouTube-Video: eine Asiatin, die laut schmatzend übergroße Mengen unappetitlichen Essens zu sich nimmt. Neben ihr stehen die Worte: „That’s what I want. That’s what I want.“
Parallel zu all dem können wir mit anderen Zuschauern chatten und erhalten simultan Kommentare und Bewertungen der Aufführung. Wir sind also, wie in unserem „wirklichen“ Leben, von Reizen überflutet, müssen uns entscheiden, wohin wir sehen und wohin wir bewusst nicht sehen, welchen Weg wir gehen und ob wir uns auf halber Strecke aufhalten lassen. Zu dieser eigenen Verantwortung kommen hier kalkulierte technische Probleme hinzu: Einzelne Streams gehen offline und wir werden aus unserer gewählten Perspektive „rausgeworfen“. Gegen Ende der Aufführung fühlen wir uns eher als Gamer denn als Theaterzuschauer. Wir sitzen vor unseren Bildschirmen und müssen, ähnlich wie bei einem Computerspiel, immer wieder neu laden. Was sich schließlich durchsetzt, ist Stream 1 mit dem Ballet of difference. Stream 3 und 4 (die Gamer) sind eingefroren.
Die Choreografie von Richard Siegal steht am Ende zu Recht im Vordergrund. Gemeinsam mit dem Licht- und Video-Designer Matthias Singer hat er eindrucksvolle „Tanzräume“ entworfen: Es sind digitale Räume, die die Tänzer wie Figuren in einem Computerspiel durchtanzen. Mal befinden sie sich in einem verpixelten Raum, mal tanzen sie Pirouetten auf QR- und Barcodes. Streifen, ähnlich der Codes, kleben auf ihren Körpern (Kostüm: Flora Miranda). Dann füllt sich der Raum scheinbar mit Farbe: gelb mit noch anderen Farbpigmenten auf den Wänden und den Kleidern der Tänzer*innen. Körper und Raum gehen ineinander über, sind fast nicht voneinander zu trennen und werden durch die elektronische Musik von Lorenzo Bianchi Hoesch als Art vierter Dimension ergänzt.