Foto: "Geschichten aus dem Wiener Wald" in Hamburg © Arno Declair
Text:Anne Fritsch, am 8. November 2020
Der Vorhang hebt sich im Hamburger Schauspielhaus. Ausgerissene Bäume hängen von der Decke, ein Mann steht im Zentrum der Bühne, eine Frau sitzt auf einer Bank. Ein paar weitere Gestalten verteilen sich im Hintergrund. Ihre Gesichter sind hinter Tüchern verborgen. Hie und da ertönt ein unheimliches Lachen, das man nicht genau zuordnen kann.
Es ist eine besondere Premiere, gerade hat Intendantin Karin Beier das Publikum begrüßt, das sich nicht im Schauspielhaus befindet, sondern den Live-Stream von zuhause aus verfolgt. Eine Geisterpremiere in Zeiten des zweiten Lockdowns. Da passt es irgendwie, dass das Ensemble auf der großen düsteren Bühne, die Regisseurin Heike M. Goetze entworfen hat, wie eine Ansammlung von Gespenstern wirkt. Goetze inszeniert Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Daniel Hoevels, Jan-Peter Kampwirth, Eva Maria Nikolaus, Julia Wieninger, Josef Ostendorf, Maximilian Scheidt und Simon Brusis beginnen den Abend mit einem stummen Spiel. Die einen schleifen herumliegende Schweinehälften über die Bühne, die an die Metzger im Stück erinnern mögen, eine andere wäscht sich leicht manisch die Hände.
Goetze hat eine Vorliebe für pantomimische Einstiege. Vor drei Wochen hatte ihre Inszenierung von Sivan Ben Yishais „Liebe – Eine argumentative Übung“ an den Münchner Kammerspielen Premiere. Hier lief der Text die erste Hälfte des Abends lediglich als Laufschrift über die Bühne, während die Schauspielerin Johanna Eiworth nackt über die Bühne tanzte. Das Stück kam dabei sehr kurz. Ganz so weit treibt sie es diesmal nicht, hier wird doch relativ bald gesprochen, auch wenn stark gekürzt wurde. Goetze geht es nicht um eine dramatische Entwicklung oder um ausgefeilte Charakterzeichnungen. Die Sätze treiben nicht eine Handlung oder Eskalation voran, sie stehen wie die Figuren vereinzelt im Raum, aus ihrem Zusammenhang gerissen.
Man bekommt einzelne Szenen und Bilder serviert, keine stringente Erzählung. Die Handlung um eine Frau in einer patriarchalen und von wirtschaftlichen Interessen geprägten Gesellschaft, die vergeblich auf Anerkennung und Liebe hofft, ist höchstens zu erahnen. Hier ist alles artifiziell und plakativ. Wo Horváth das Gespenstische im Normalmenschen entlarven wollte, verkleidet Goetze alle als Gespenster. In einem anderen Text des Autors, „Ein Sklavenball. Pompeji“, heißt es einmal: „K. R. Thago nimmt langsam die Maske ab; er hat überhaupt kein Gesicht.“ Auf diesem Zitat baut Goetze ihre Inszenierung auf, ihre Gestalten sind alle gleich, nicht unterscheidbar. Nur leider unterläuft das die Mechanismen der Horváthschen Dramatik. Dort sieht alles zunächst ganz harmlos aus, bis hie und da das Unheimliche, das Bedrohliche aufblitzt. Seine Figuren reden nicht, um etwas zu sagen, sondern um etwas zu verbergen. Nur im Suff oder in der entsprechenden Gesellschaft offenbaren sie ihre brutalen Fantasien und Gedanken. Seine Stücke spielen mit dem Wechsel aus Schein und Sein, aus gefälliger Lüge und ungehöriger Wahrheit. Goetze nimmt den Figuren die Dimension des Täuschen-Wollens, des Verbergen-Wollens. Gesichts- und somit irgendwie auch Charakterlose sagen Texte auf, manches Mal ist schwer zu erkennen, wer überhaupt spricht. Aus dem Drama wird eine Textfläche, die die Nuancen der Vorlage schluckt. Indem die Regisseurin das Maskenhafte offensichtlich macht, lässt sie die Luft aus dem Stück. Bevor das erste Wort gesprochen wird, weiß jeder: Diese Leute haben etwas zu verbergen, und zwar, wer sie wirklich sind. Man kann nicht mehr erschrecken, wenn die Brutalität aus ihnen herausbricht. Man hat nichts anderes von ihnen erwartet. Es ist kein Spiel mit der Maskierung, lediglich ein maskiertes Spiel.
Wenn diese Menschen auf dem Bauch liegend über den Bühnenboden kraulen; wenn Marianne und Alfred über ihre Zukunft sprechen und ihre Arme rhythmisch im Takt schwenken wie bei der Sportgymnastik, gibt es da keinen Moment der Wiedererkennung, kein Mitfühlen. Die Vorgänge auf der Bühne bleiben fremd. Die Stille, in der bei Horvàth das unterschwellige Grauen nachhallt, wird hier im Chor herausgeschrien, die Schweinehälften penetrant über die Bühne geschleift und getragen, man knallt sie einander vor die Füße und zupft daran. Nichts ist hier subtil, nichts unterschwellig. Irgendwann tanzen alle vereinzelt über die Bühne, Marianne legt die Verschleierung ab und bewegt sich im schwarzen Gymnastikanzug befreit über die Bühne, posiert Richtung leeren Zuschauerraum. Auf einmal ist da ein Mensch. Das ist der Moment, auf den all das Geschehen zuvor hinzielte, diese Befreiung aus einem Leben in Verstellung. Doch anstatt daran anzuknüpfen, zieht Marianne sich nun ein blutbespritztes Brautkleid über, im Arm hält sie eine Babypuppe, in der Hand einen Dolch, aus dem sie Blut über das Baby spritzt. Wieder Effekt statt Auseinandersetzung. Wieder Verkleidung statt Enthüllung. Ein letztes Wort, dann ist es aus: „Schade.“