Foto: Braunfels' „Die Vögel“ an der Bayerischen Staatsoper, hier mit Caroline Wettergreen (Nachtigall), Michael Nagy (Ratefreund) und Charles Workman (Hoffegut). © Wilfried Hösl
Text:Joachim Lange, am 1. November 2020
Draußen: eine hilflos wirkende Menschenkette als Protest gegen die Theaterschließung. In den Gängen und Foyers des Münchner Nationaltheaters: absurde Leere. Nur im ersten Rang durften gerade mal 50 auf Abstand gehaltene Zuschauer Platz nehmen. Das Parkett und die vier Ränge sind wie ausgestorben. Und das, obwohl eine Großpremiere auf dem Programm stand. Es wurde eine Geisterpremiere. Der Unterschied zu einer anderen, im März erlebten (bei Konwitschnys Inszenierung der „Stummen von Portici“ in Dortmund waren gleich nur ein paar Journalisten zugelassen): Jetzt gibt es vor dem November-Lockdown nicht nur vorbildlich erarbeitete und umgesetzte Abstands- und Hygienekonzepte, sondern auch eintrainierte Verhaltensweisen eines disziplinierten Publikums. Aber: tut nichts! Diese Häuser werden zugemacht! Sie sind prominente Vehikel einer Symbolpolitik im Kampf gegen das Virus.
Immerhin hat Intendant Nikolaus Bachler in München den Streaming-Notausgang offen gehalten, gleich diese sonderbare Premiere streamen lassen und so unreglementiert viele Plätze in seinem Staatsopern-TV zur Verfügung gestellt. Es wäre besonders schade, wenn diese erste Münchner Nachinszenierung der „Vögel“ von Walter Braunfels (1882–1954) nach deren Uraufführung an diesem Haus im Jahre 1920 quasi im stillen Quarantäne-Kämmerlein ein zweites Mal „vergessen“ würde.
Wenn heute eine Braunfels-Oper auf eine Premium-Bühne wie die in München kommt, dann gehört das auch in seinem Falle in die Kategorie Wiedergutmachung. Für die macht sich übrigens seit Jahren der Enkel des Komponisten, Star-Architekt Stefan Braunfels, stark. Bis 1933 hatten sich „Die Vögel“ jedenfalls mit Erfolg auf vielen deutschen Opernbühnen niedergelassen. Danach verschwanden sie von dort – genauso, wie die Nazis ihren Schöpfer auch aus dem Rektorenamt der Kölner Musikhochschule jagten. Für die dominierende Hinwendung zu einer radikalen Moderne nach dem Krieg war der Komponist wiederum nicht modern genug. Kein Post- oder gar Anti-, mehr so ein Neben-Richard Strauss. Dass dessen „Ariadne“ und „Frau ohne Schatten“ schon geschrieben waren, ist unüberhörbar. Auf Wagners Schultern standen sie eh alle. Dirigent Ingo Metzmacher schwelgt denn auch mit dem Bayerischen Staatsorchester auf diesen Wolken, zelebriert den Rausch des Spätromantischen, trägt die fabelhafte Sängercrew auf Händen. Er lässt aber auch ein kriegerisches Donnern so von der Leine, dass man wirklich meint, ein wütender Zeus würde einen Aufstand gegen die Macht der Götter wegdonnern.
In Braunfels‘ nach Aristophanes selbst verfasstem Libretto verschlägt es die Herren Hoffegut (Charles Workman) und Ratefreund (Michael Nagy) ins Reich der gefiederten Wesen, in denen ein ehemaliger Mensch als König Wiedhopf (spielfreudig torkelnd: Günter Papendell) das Sagen hat. Die beiden menschlichen Gäste im sprichwörtlichen Wolkenkuckucksheim versuchen die Vögel zum Aufstand gegen die Götter aufzustacheln. Was ihnen dank eines musikalisch überbordenden, göttlichen Machtwortes, das ihnen Wolfgang Koch mit Marxschem Rauschebart als Prometheus überbringt, gründlich misslingt. Während Ratefreund am Ende als gescheiterter Kriegstreiber das ganze Abenteuer als Blödsinn zusammenfasst, bleibt Hoffegut die Erinnerung an seine Begegnung mit der betörend trällernden Caroline Wettergreen als Nachtigall.
Zu all der entfesselten Opulenz der Kehlen und des Orchesters liefert die Bühnen-Ästhetik Frank Castorfs und seines Bühnenbildners Aleksandar Denić einen Kontrast, der die märchenhafte Geschichte, wie immer bei den beiden, in eine ganz eigene Fantasiewelt versetzt. Die lebt von sofort oder weniger eingängigen Assoziationen zur Wirklichkeit, also zu Erfahrungen und Bildern. Bei Denić wird daraus eines seiner opulent aufgetürmten und im Detail verkramten Drehbühnenkonstrukte. Mit Kabelmasten und Parabol-Antenne. Mit einer Penthouse-Holzhütte in der Höhe. Mit einer ohne viel Federlesen heruntergelassenen Leinwand für live gedrehte „Innenaufnahmen“ (darunter die einer allzumenschlichen Liebesbegegnung von Mensch und Nachtigall im Grünen). Natürlich fehlen auch ein Riesenbild von Alfred Hitchcock und Ausschnitte aus seinem Sechzigerjahre-Vögel-Thriller nicht.
Wenn die beiden Menschen als Kriegstreiber die schwarze Uniform nebst Hakenkreuz anlegen, blitzt es auch mal politisch auf, bringt aber nicht viel. Auf der anderen Seite stellt Adriana Braga Peretzki mit den Kostümen vor allem der Vögel jeden Revueglamour in den Schatten. Im Unterschied zu seiner Hamburger Notcollage „molto agitato“ Anfang September (siehe unsere Online-Kritik vom 05.09.2020) kann München einen „richtigen“, wenn auch etwas ausgebremsten Castorf verbuchen. Zumindest haben sie ihn „im Kasten“. Man darf vermuten, dass der Beifall der 50 anwesenden Zuschauer repräsentativ war für jene Zustimmung, die eine solche Wiederbegegnung verdient und bei einem vollen Haus erhalten hätte. Selbst wenn für Castorf dann auch ein paar Gegenstimmen dabei gewesen wären.