Foto: "Mr. Emmet Takes a Walk", hier mit Michael Borth und Samantha Gaul. © Laura Nickel
Text:Georg Rudiger, am 11. Oktober 2020
Am Ende tigern sie alle über die Bühne. Die Oper ist vorbei, der Protagonist hat sich das Leben genommen, aber im Orchestergraben gibt es wie im Musical noch eine Zugabe. Und die vier Solisten kreisen mit den Hüften und schwingen die Arme. Auch Dirigent Ektoras Tartanis legt im Freiburger Theater zum Schlussapplaus ein Tänzchen hin. Schließlich wird Regisseur Herbert Fritsch aus der Unterbühne hochgefahren, der mit den Schultern rollt und gemeinsam mit dem strahlenden Ensemble groovt. The show must go on!
Dass der in den letzten Jahren sehr gefragte, preisgekrönte Regisseur an einem mittelgroßen Theater wie Freiburg eine Inszenierung vorlegt, hat mit den durch die Coronapandemie frei gewordenen Kapazitäten, aber auch mit der langen, freundschaftlichen Verbindung zu Intendant Peter Carp zu tun. Dieser hatte ihm am Theater Luzern seine erste Inszenierung überhaupt ermöglicht. In Carps Oberhausener Intendanz entstanden weitere Arbeiten, bevor Fritsch von den großen Häusern in Zürich, Berlin und Hamburg eingeladen wurde. Bis Ende des Jahres hat das Theater Freiburg einen neuen, coronakonformen Spielplan vorgelegt, der kürzere Stücke ohne Pause und mit kleiner Besetzung auf die Bühne bringt.
Peter Maxwell Davies’ letzte, gut einstündige Oper „Mr. Emmet Takes A Walk“ aus dem Jahr 2000 mit einem Libretto von David Pountney braucht auf der Bühne nur eine Sängerin, zwei Sänger und einen Schauspieler. Auch das Orchester ist kammermusikalisch besetzt. Der Spaziergang, den Mr. Emmet unternimmt, führt ihn in einen Park, ein Hotelzimmer, auf einen Berg und in ein Varieté. Die Grenzen zwischen äußerer und innerer Realität sind fließend. Er begegnet seiner verstorbenen Mutter und dem Klavierlehrer seiner Kindheit. Es ist (auch) ein Spaziergang ins Innere – in seine Ängste und seine Selbstzweifel. Als er über die Hitze im Hotelzimmer klagt, klärt ihn der Klempner auf, dass es nicht an der Heizung läge, sondern dass die Hitze von innen käme.
In Freiburg trägt Mr. Emmet einen braunen Anzug und einen Seitenscheitel (Kostüme: Victoria Behr). Er hält sich fest an seiner verschlissenen Aktentasche und wirkt zu Beginn übertrieben gut gelaunt. Mit seinem leichtgängigen, dennoch tragfähigen Bariton macht Michael Borth aus Mr. Emmet einen nicht unsympathischen Zeitgenossen, der von einem Vertrag spricht, vor einem Klavier kniet und verzückt ein paar Töne klimpert. Die Oper startet mit Schleifgeräuschen. Ka (Samantha Gaul) und Mr. Todd (Alexander Kiechle) schrubben die Bühne. Sie sprechen von einem Zug und viel Blut, das sie entfernen müssen. Die swingende, kleinteilige Musik, die vom Philharmonischen Orchester Freiburg unter ihrem 1. Kapellmeister Ektoras Tartanis fein modelliert aus dem Orchestergraben tönt, bildet einen hübschen Kontrast dazu. Samantha Gaul brilliert als Putzfrau und Showgirl, als madonnenähnliche Mutter und Grande Dame mit quecksilbrigem Sopran und großer Präsenz. Alexander Kiechle (Mr. Todd, Sicherheitsbeamter, Kellner, Klavierlehrer, Gabor) ist darstellerisch ähnlich wandelbar. Nur in der Tiefe wird sein Bass etwas zu dünn.
Herbert Fritsch versucht erst gar nicht, der offenen, rätselhaften, von einer Episode zur nächsten springenden Geschichte eine Richtung zu geben. Zarte Verbindungslinien entstehen durch die Variation der Kostüme oder die vom Orchester delikat gestalteten Zwischenspiele. Fritsch betont den theatralischen Augenblick. Den Brüchen der Vorlage fügt er weitere hinzu, die genüsslich zelebriert werden dürfen. Die Auftritte von Hartmut Stanke als Mr. E., der absurde To-Do-Listen („Die Katze sterilisieren“, „Zur Maniküre gehen“, „Meinen dämlichen Hut tragen“) rezitiert, sind schön absurde Einschübe. Dass sich dieser Mr. Emmet am Ende vor einen Zug werfen wird, kündigt sich nicht an. Die wenigen Spannungsverschärfungen wie die vom Band eingespielten gehetzten Schritte oder die scharfen Blechattacken haben szenisch keine Folgen. Fritsch bleibt bei dem revuehaften Grundton, der manches Mal zu selbstverliebt daherkommt. Am Ende kreischt der Zug – und Mr. Emmet hält sich die Augen zu. Dieser Spaziergang endet tödlich. Warum? Das erfährt man in Freiburg nicht.