Einstudiert hat Goecke die Aufführung im Juni und Juli, immer nur mit einzelnen Tänzern, denen er von außen durch ein Fenster Anweisungen gegeben hat. Neun Nummern hat das Programm, nur eine davon ist als „klassischer“ Pas de Deux angelegt. Anneleen Dedroog und Garazi Perez Oloriz, die seit zehn Jahren zusammenleben, tanzen diesen mit Tempo und körperlichem Einsatz. Er endet in einer langen, innigen, befreiend wirkenden Umarmung, eine Geste, in der sich die starke Sehnsucht nach Nähe Bahn bricht. In allen anderen Nummern stehen Solisten im Zentrum, ergänzt um ein, zwei, manchmal auch drei Tänzer und Tänzerinnen, die spiegelbildlich mit großem Abstand zum Solisten agieren.
Was sich auf der Bühne des Theaterhauses Stuttgart ereignet, ist die Explosion eines entfesselten Ensembles, das sichtlich froh ist, endlich wieder vor einem wenn auch dezimierten Publikum auftreten zu können. Ausstatterin Michaela Springer hat dafür die leere Bühne mit beigem Tanzboden ausgelegt, den Raum begrenzen schwarze Vorhänge, die sich manchmal hinten öffnen: Dann werden Spiegelfolien sichtbar, in denen sich die Tänzer und Tänzerinnen spiegeln, schemenhaft auch das Publikum, oder es leuchten einzelne Lichterketten; alles in allem hat Springer einen Raum geschaffen, der den Menschen in Bewegung ins Zentrum rückt. Ihre Kostüme beherrscht bis auf eine Ausnahme die Farbe Schwarz, die Oberteile zeigen zumeist große Blumenmuster. Dieses Spiel von Schwarz und Beige wird auch vom Lichtdesign unterstützt, das ebenfalls mit diesem Kontrast arbeitet.
Wenn „Lieben Sie Gershwin?“ solistisch strukturiert ist, so wird doch auf den Ensemblegedanken gepocht: Louiza Avraam, Nora Brown, Andrew Cummings, Anneleen Dedroog, Alessio Marchini, Barbara Melo Freire, Luca Pannacci, Garazi Perez Oloriz, Mark Sampson, Jonathan dos Santos, Izabela Szylinska, Sidney Elizabeth Turtschi, Theophilus Veselý, Shawn Wu und Shori Yamamoto agieren solistisch oder als Gruppe spiegelbildlich aus einem Guss, aus einer gemeinsamen Aura heraus. So, wie die Pas-de-Deux-Szene die Sehnsucht nach Nähe ganz stark zum Ausdruck bringt, so gelingt es Goecke auch in der Abschlussszene eine Emotionalität bis hin zur Verzweiflung vorzuführen: Da stellt er den Menschen in seiner großen Einsamkeit vor dem Spiegel aus. Er nennt es: „Es ist das ultimative Quarantäne-Solo.“ Theophilus Veselý mit nacktem Oberkörper bewegt sich zu der „Rhapsody in Blue“ mit großen, schnellen Bewegungen, die den ganzen Körper zucken lassen, um im nächsten Augenblick in absoluter Ruhe zu verharren und dann aus dem Stand den Körper kreisen zu lassen. So eruptiv, so explosiv agiert das gesamte Ensemble. Und deutlicher lässt sich die erzwungene Einsamkeit auch nicht darstellen.
Lieben Sie Gershwin? Mit diesem wunderbaren Ballett – Genrebezeichnung von Goecke selbst – überzeugt der Choreograf; letztlich lernt man nicht nur Gershwin, sondern auch dieses Ensemble lieben.