Foto: Sebastian Blomberg und Holger Stockhaus drehen durch im "Reich des Todes" © Arno Dedlair
Text:Detlev Baur, am 12. September 2020
Das Parkett wirkt zerrupft, Reihen und Plätze fehlen, im Rang sind die meisten Plätze gesperrt; das größte deutsche Schauspielhaus bietet Platz für etwa 300 (anstelle der fast 1200 Plätze bis vor einem halben Jahr). Doch sonst hat sich nicht viel geändert; die Uraufführung von „Reich des Todes“ von Rainald Goetz dauert gut vier Stunden und bietet dabei eine Pause. Auch auf der Bühne ist kein großer Wandel festzustellen. Ein großes Ensemble von 14 Protagonisten samt Tänzern und einem kleinen Orchester von fünf Musikern spielen groß auf. Die (von Karin Beier und anderen) in großen Jelinek-Inszenierungen der letzten Jahre entwickelte Form des großflächigen, episch-bilderreichen Frontaltheaters bewährt sich auch in dieser ersten Premiere eines neuen Stücks von Rainald Goetz seit 1999. Ein verändertes Spiel ist kaum festzustellen, Maske trägt der Präsident (Wolfgang Pregler) nur, wenn er, sie vor die Augen ziehend, vom von ihm ausgelösten Grauen nichts mehr mitbekommen will. Und auch thematisch bietet der lange Abend nichts wirklich Neues.
Viel Zeit gelassen hat sich Rainald Goetz bei der Verarbeitung des zentralen Themas in „Reich des Todes“. Es geht um die unmittelbaren Folgen der Anschläge des 11. September 2001, nicht zufällig lag das Premierendatum genau 19 Jahre später: Die vielleicht zentrale Figur ist Vizepräsident Selch (alias Cheney), der gemeinsam und zugleich gegen den Präsidenten Grotten (Bush junior) mit bürokratischen Strebern die Hölle von Abu Ghraib im Irak zu verantworten hat. Geradezu manisch kreist das dramatische Epos um die ungenannte Folter im Namen von Freiheit und Fun. Zwischen Washingtoner Amtsstuben und Gefängnisberichten werden die ehemals ikonographischen Medienbilder des Grauens, etwa von einem Gefangenen auf einer Holzkiste mit spitz zulaufender Kapuze über dem Kopf, teils beschreibend, teils fotografisch aus der Versenkung unseres Vergessens geholt. „Reich des Todes“ ist aber nicht nur Anklage der Inhumanität der ehemaligen Großmacht USA; vielmehr stellen Goetz und Regisseurin Karin Beier (Bühne: Johannes Schütz, Video: Voxi Bärenklau) die Bilder, Berichte und Dialoge in historische Zusammenhänge (mit Folter-Bildern aus der Kunstgeschichte), verbinden sie andeutungsweise mit Nazi-Gewalt und installieren gegen Ende ein „Camp Justice“ als fiktives Tribunal über die schuldigen Männer (und wenigen Frauen) aus Washington.
Schuld und Leiden liegen nah beieinander, die Gewalttäter spielen ein verzweifeltes Spiel aus Angst, Gier und toxischer Männlichkeit. Goetz interessieren die psychischen Wirkungen von Folter und Gewalt; Tilman Strauß ist etwa als zurückblickender Gefangener eine der zahlreichen glänzenden Hauptfiguren in einer Inszenierung, die den Text zum schillernden Bühnenleben bringt – was auch den anwesenden Autor zu heftigem Schlussbeifall veranlasste.
Karin Beier und dem Ensemble gelingen nach einer gewissen Anlaufzeit für Zuschauer und Akteure – auf der weitläufigen Bühne, die durch eine auf der Drehbühne liegenden rechteckigen Plattform mit Videoscreen (der ja nach Drehung vorne, hinten oder an einer Seite liegen kann) geprägt ist – große Bilder und beeindruckende Figurenskizzen. Dabei lassen sie ein Theater des Grauens entstehen, in dem nach der Pause ein beschwichtigender Chor der Schuldigen und Bilderkonsumenten an der Rampe lümmelt, der von zwei Clowns (Sebastian Bolmberg und Holger Stockhaus) gestört wird: Sie pinseln auf die Projektion eines Folteropfers lachende Sonne und das Wörtchen „fun“ und sorgen mit ihrem hysterischen Lachen für grausige Stille im Saal. Anja Laïs spielt eine in jeder Beziehung überforderte Brigadegeneralin und die ausschweifend verlorene Präsidentengattin, Daniel Hoevels den bürokratisch-karrieregierigen Foltervordenker Dr. Schill, Markus John den machtlosen Bremser Dr. Kelsen, Michael Weber den bedenkenlosen Justizminister Sebald, Burkhart Klaußner den gewissenlosen Kriegsminister Roon, Lars Rudolph den feigen Geheimdienstdirektor Thurgau. Auch Maximilian Scheidt pendelt zwischen Regierungsebene (als Selchs Privatsekretär) und Gefängnis-Hölle (als Folterknecht Braum). Sandra Gerling offenbart als Sicherheitsberaterin Anflüge von Gewissen, und hat als Todesengel am Ende einen starken Auftritt; Josefine Israel und Eva Bühnen zeigen als gnadenlose Soldatinnen und Zeuginnen große Präsenz im Spiel um innerlich tote Lebende und die Aufarbeitung unfasslichen Leids. Sebastian Blomberg ist die würdige Hauptfigur dieser Geisterbeschwörung und des theatralen Gerichtstags. Der verantwortliche Intrigant und Gewaltbereiter nutzt anfangs noch das infantile Gefährt Segway, sieht sich dann gezwungen, inmitten der störenden Särge gefallener Soldaten den Rollstuhl zu nutzen. Der Über-Täter sieht sich so überzeugend wie abstoßend als Opfer.
Ein Verdienst des überbordenden, ausschweifenden und dabei doch konzentrierten Großdramas und seiner Uraufführung ist die Gegenüberstellung von Opfern und Tätern, von zwei Sphären, die ineinander übergehen. Dieses Theater des Grauens hat damit und in der erträumten Gerichtsverhandlung geradezu ein utopisches Moment. Am Ende verbinden sich die Akteure mit den Musikern zu einem großen Oratorium des Leids (Musik: Jörg Gollasch). Goetz und Beier beschränken sich nicht auf Amerika, eher dient der amerikanische Alptraum als Beispiel für ein allzumenschliches Inferno. Und damit ist diese deutsch-amerikanische „Orestie“ des 21. Jahrhunderts gleichsam die wahre Tragödie vor den aktuellen Satyrspielen mit Trump, Putin und anderen Diktatoren des Bösen.