Foto: Szene mit Nikolaus Habjan (Puppenspiel) © Björn Hickmann, Stage Picture
Text:Ulrike Kolter, am 4. September 2020
Kindermund tut Wahrheit kund: „Der Bassa Selim ist der Strippenzieher – und dabei kann er ja nicht mal singen!“ Dass Mozart diesen Bassa als Sprechrolle angelegt hat, muss den wachsamen, ein wenig altklugen Jungen nicht interessieren, der lieber seine „Entführung aus dem Serail“ weiterlesen mag, statt endlich zu schlafen wie sein Papa es gern hätte…
Regisseur und Puppenspieler Nikolaus Habjan sitzt mit der Klappmaulpuppe eines kleinen Jungen auf einem Himmelbett inmitten der Dortmunder Opern-Bühne und macht aus Mozarts Singspiel um die Piratenentführung der schönen Konstanze das, was man heute und in Corona-Zeiten abstandsbedingt mit diesem Stück famos tun kann: Es als abenteuerliche Gutenacht-Geschichte erzählen, bei der sich die Beteiligten eben „nur“ als Puppen begegnen. Während sich Habjan und sein Puppen-Junge also ihre „Entführung“ zusammenphantasieren, treten ihnen zu Füßen und rings ums Himmelbett die etwa ein Meter hohen Tischfiguren von Belmonte, Osmin, Pedrillo, Konstanze und Blonde auf, die Habjan gekonnt an Kopf und Gliedmaßen führt. Aus dem Orchestergraben heraus wird (stellenweise) abgefilmt, sodass die vor Sehnsucht überquellenden Puppenaugen des Belmonte oder die tumbe Hässlichkeit des dicken Osmin nebst ausdrucksstarker Puppengesten im Videoscreen über die ganze Bühnenbreite zu sehen sind, etwa Osmins „Ich hab auch Verstand“ mit opernparodierendem, überdeutlichem Handschlag gegen Herz und Stirn. Urkomisch!
Natürlich gibt’s auch Sängerinnen und Sänger, die leibhaftig und schwarzgekleidet aus der Seitenbühne auftauchen, ihre Arien oder Ensembles (mit Abstand) zum Besten geben und wieder verschwinden im Dunkel. Das ist zwar nur eine halbszenische Lösung, die Habjan bei seinem Münchner „Oberon“ im Prinzregententheater ganz anders umsetzen konnte: Dort agierten Solisten wie Annette Dasch oder Brenden Gunnell mit und neben den teils lebensgroßen Puppen gleichberechtigt. Hier in Dortmund jedoch umgeht der österreichische Allroundkünstler mit der strikten Trennung von Spiel und Gesang jegliche Nähe der Darsteller zueinander – und konnte so doch noch die Eröffnungsinszenierung der Spielzeit aus dem Boden stampfen, nachdem die ursprünglich geplante „Carmen“ aus naheliegenden Gründen abgesagt werden musste.
Die ausverkaufte, abstandsbestuhlte Premiere ist nicht nur der erste reguläre Dortmunder Opernabend nach dem Shutdown, sondern auch die Einstandsinszenierung von Nikolaus Habjan als neuem Hausregisseur, der hier in den nächsten vier Spielzeiten immerhin fünf Inszenierungen verantworten soll. Ein starkes Signal für die sich am Stadttheater zunehmend entwickelnde Figurentheaterszene – und ein erfreulicher Coup für Opernintendant Heribert Germeshausen.
Auf pausenlose 75 Minuten eingedampft ist die Fassung von Nikolaus Habjan und dem Autor (und Psychiater) Paulus Hochgatterer, der 1. Kapellmeister Motonori Kobayashi führt die schmale 10er-Besetzung der Dortmunder Philharmoniker aus dem halb hochgefahrenen Orchestergraben, wobei ihm die Tempi gelegentlich zu entgleiten drohen. Aus dem Solistenensemble begeistern vor allem die beiden südkoreanischen Ensemble-Neuzugänge Sooyeon Lee (mit federleicht intoniertem Sopran als Blonde) und Sungho Kim (Belmonte), dazu mit vertrautem Koloratur-Schmelz Irina Simmes als Konstanze sowie Fritz Steinbacher (Pedrillo) und Denis Velev (Osmin).
So wechseln musikalische Nummern mit den Plauder-Intermezzi von Puppenvater Habjan und seinem Knaben, die stutzen lassen mit ihren Wortspielen: „Jede Geschichte ist eine Geschichte über den Tod“ oder „Eine Befreiungsgeschichte ist etwas anderes als eine Fluchtgeschichte, weil da jemand von außen hilft.“ Aber warum nur begnadigt Strippenzieher Bassa am Ende alle? Die gähnende, kindliche Erklärung: „Er tut’s einfach so“. Und zum finalen Vaudeville ist der Junge dann endlich eingeschlafen… Erst schüchterner, dann jubelnder Applaus – die Saison ist eröffnet!