Benny Claessens hat seit seiner „Salome“ im Gorki-Theater an rhetorischer Rafffinesse und Sinnlichkeit enorm gewonnen. Die Sätze von Bergs erster Weimarer Uraufführung klabautert, modelliert und lässt er auf seiner Zunge zergehen wie Hot Dogs mit Brüsseler Pralinés und Mayonnaise. Oder inspirierte ihn Ersan Mondtag zur ganz großen Opernsoap? Claessens hätte auch ein Stage Set aus Türmen leerer Pizzakartons, mit denen sich „Männer ohne Blick für Ordnung und Harmonie“ (Berg) so gerne umgeben, in einen Palast verwandelt. Aber hier ward die Corona-Zelle zum Boudoir, verdoppelt auf großer Leinwand und akustisch verdichtet mit sanftem Sounddesign. Auf Claessens Podium fehlten nur lauer Prosecco und Lord extra, dann wäre fast alles gewesen wie früher. Benny Claessens schwingt allerdings lieber Brandauers Lear-Kimono von den Salzburger Festspielen als den Ornat eines Thüringer Herzogs oder des bayerischen Märchenkönigs.
Mal sehen, was das Schauspiel Köln Ende September aus der Koproduktion mit dem Kunstfest Weimar macht. Denn von Sybille Berg stammt die musikalisch-kulturbeflissene Weimar-Wolke nicht, welche Mondtag und Claessens über den Monolog PAUL legen. Der „Jugendliche Einzelgänger in der Corona-Zone“ wird umspült vom Pilgerchor aus der Regionaloper „Tannhäuser“, dazu begrapscht er die Kopie des Schiller-Goethe-Denkmals („White men“ – igitt?). Auch das ist Kunstfest Weimar: Fast jedes Jahr gibt es pittoreske, idyllische, faszinierende neue Ortsentdeckungen mit großer*n Geschichte*n – der „tiefe queere Wald“ des Hörspiels von Maria May und Micha Kranixfeld reicht von deren Hör-Installation beim Gartenlokal „August Frölich“ auf seliger Vorstadthanglage ins Panorama mit Wald, Flur, Plattensiedlung – und bis zu Benny Claessens.
Benny-PAUL hat auch dank Mondtag Mimengröße als queerer Entertainer und Erzähler. Benny Claessens macht Bergs erinnerte Coming-of-Age-Story zum Märchen aus 1001 Corona-Nacht. Nur ist Claessen trotz Körperpracht und ‚pride in brain‘ keine Scheherazade, sondern der mäandernde Adoptivsohn von Pumuckl und Nina Hagen. Aus dem angeschwulten Sommerwind wird ein Roman von Verlorenheit, stellenweise verabsolutierter Gender-Correctness mit etwas Elternschelte. Bergs Text plündert Zeitzustände und bringt sie sprachgewitzt auf den Punkt. Sie mag ihren PAUL im Herbstkollaps nach der Frühlingsapokalypse 2020 viel zu sehr, um ihn als Opfer eines Diseusen-Dramoletts oder als Konkurrenz der Goethe und Gazetten plündernden Irmgard Knef zu pushen.
Übrigens singt PAUL von verlorener Liebe und Vergänglichkeit, was alle am Ende bejubeln. Doch während des 65-Minuten-Monologs wird wenig gelacht, obwohl nicht Benny Claessens, aber seine Poesie von lauter Lustigkeit durchwirkt ist. Hatten er oder Mondtag die Idee? Dem viel benutzten, aber sich nicht abnutzende Word „halt“ gibt Claessens schillernde Bedeutungsvielfarbigkeit, bevor er sein Publikum nach Hause oder in den Abend auf den Theaterplatz zur Terrassen-Show des Deutschen Nationaltheaters schickt. Eine schwuppige Liebeserklärung mit Bildungsanspruch an den Geist von Weimar und den 271. Goethe-Geburtstag – zum Niederknien!