Foto: Überwältigende Salzburger "Elektra": Tanja Ariane Baumgartner (Klytämnestra) und Aušrinė Stundytė (Elektra). © SF / Bernd Uhlig
Text:Joachim Lange, am 2. August 2020
Endlich wieder große Oper! Ohne Wenn und Aber. Noch dazu eine „Elektra“, die einfach musikalisch und szenisch überwältigt. Abgesehen davon, dass dieser pausenlose Einakter eine coronakompatible Länge hat und an die Festspielgründer erinnert, gehört der einfach mit dazu zu den 100. Jubiläumsfestspielen. Und das Ganze mit einem richtig groß besetzten Orchester im Graben. Was heute schon ein kleines Wunder ist. Die Wiener Philharmoniker sind eben nicht nur eines der weltbesten (auch Strauss-)Orchester überhaupt, sondern auch so mutig und risikobereit, sich im Corona-Ausnahmezustand auf Vorsicht und dauerndes Testen zu verlassen. Dank Franz Welser-Möst am Pult wird diese Premiere in der Felsenreitschule zu einem Fest des packenden, mitreißenden Klangsogs. Von den harten Schlägen des Agamemnon-Motives und den geradezu perversen Freudentänzen einer vom Rachewahn zerstörten Tochter im Blut der eigenen Mutter bis hin zu dem betörend poetischen, in die Utopie eines nicht gelebten Lebens abhebenden Duettes zwischen Elektra und ihrem Bruder Orest. Kaum erklingt das Hohelied der Liebe bei Strauss schöner. Kaum ist es aber auch deplatzierter als in einer Situation, kurz bevor der Bruder die eigene Mutter und deren Liebhaber abschlachtet. Elektra wird das Blutbad so bejubeln, dass sie daran stirbt. Ihre Schwester Chrysothemis, die nicht ins Dunkel sehen, sondern ein Leben mit Kind und Kegel will, wird die Welt danach pragmatisch neu ordnen. Sie muss es, denn ihr Bruder Orest fügt sich zwar seinem Schicksal, zum Muttermörder zu werden, verkraftet das aber nicht.
In Krzysztof Warlikowskis Inszenierung flieht er nicht nur aus der Welt der (Über-)Lebenden, er flieht gleich ganz aus dem Stück und verlässt den Saal, sodass Chrysothemis, die das letze Wort in diesem grandiosen Einakter hat, ihr „Orest“ dem Fliehenden nachruft. Das fürs ausgehungerte Publikum Faszinierende an diesem Abend ist, dass sich Welser-Möst bei der Entfesslung des Elektra-Sounds, auch wenn er orgiastisch aufrauscht, keinen Zwang antun muss. Er hat eine Ausnahmebesetzung zur Verfügung, die diesen Festspielen tatsächlich zur Ehre gereicht. Durchweg Jubiläums-Festival-Spitzenklasse. Und zwar von dem fantastischen Frauen-Trio an der Spitze über den fabelhaft auch den Schrecken hörbar machenden Derek Welton als Orest und Michael Laurenz als flatterhaften Aegisth bis zur letzen Magd und jeder kleinen Rolle. Dass auch die Konzertvereinigung des Wiener Staatsopernchors am Ende von der Seite aus einen effektvollen Beitrag beisteuerte, ging beim Schlussapplaus ungerechterweise etwas unter.
Asmik Grigorian, die am selben Ort in den vergangenen Jahren als Salome gefeiert wurde, gibt eine umwerfende Chrysothemis, die nicht nur lebenspraktisch und überlebenstauglich, sondern auch jung und sexy ist. Aušrinė Stundytė in der Titelpartie sieht man die Verwüstungen der Jahre im Rachewahn nicht gleich an, aber sie beglaubigt alle Facetten ihrer Partie ohne Kraftmeierei mit bestechender Eloquenz und einer dunkel leuchtenden Zartheit. Bei Tanja Ariane Baumgartner ist auch Klytämnestra eine immer noch attraktive Frau, der man das Leben gestohlen hat. Sie singt nicht nur fulminant, sondern bewältigt auch den hinzugefügten gesprochenen Monolog (noch bevor der erste Ton erklingt) grandios. Darin bekennt sie sich zu ihrem Mord an Agamemnon und zu ihren Gründen.
Warlikowsky bezieht so wie einst Konwitschny in Kopenhagen und Leipzig die Vorgeschichte mit ein. Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak hat aus den Gemächern des Palastes, die eigentlich als Orte des Mordens hinter die Bühne verbannt sind, einen verspiegelten, nüchtern-modernen Raum auf der Bühne gemacht. Ein Ort, der mal die Familienkonstellation, mal die Vorgeschichte, dann wieder Opferrituale und schließlich die von Orest Ermordeten einblendet. Am Ende schiebt sich dieser Palast über das lange Wasserbecken, das an den Mord an Agamemnon erinnert. Als Orest unerwartet vor Elektra steht, stehen die Mägde schon mit Blumen bereit und die Schwester hat ihn noch immer nicht erkannt. Das ist in der ausgeklügelt psychologisierenden Personenregie so deutlich wie das auf die Rückwand der verkleideten Felsenreitschule projizierte Blut zu den Todesschreien der Klytämnestra. Hermann Nitsch lässt grüßen. Dieses Blut ist die Nahrung einer Unzahl von Fliegen. Deren Bewegungschoreographie im Video entfaltet eine ganz eigenen Suggestionskraft zum eskalierenden Freudenjubel Elektras. Wie die Rachegöttinnen sind auch die Fliegen nicht von dieser Welt.
Nach kurzem Luftholen und dem kollektiven „Masken auf“ – berechtigter Jubel für Alle!