Foto: "Opening Ceremony" im Münchner Olympiastadion © Julian Baumann
Text:Anne Fritsch, am 12. Juli 2020
Fünf Jahre war Matthias Lilienthal Intendant der Münchner Kammerspiele. Fünf aufregende Jahre, die mit einer Übernachtung in einem Shabby Shabby Apartment begannen, in denen es heftigste Debatten um das Theater gab und am Ende noch größeres Lob. Als Schlusspunkt hatte Lilienthal nochmal ganz groß gedacht: mit einem 24-Stunden-Theater-Marathon an verschiedenen Stationen in der Stadt wollte er sich verabschieden, unter anderem im Olympiastadion. „Olympia 2666“ sollte das Projekt heißen, frei nach Roberto Bolaños Roman „2666“. Dann aber kam Corona. Nun gibt es weder Olympia 2020 in Japan, noch „Olympia 2666“ in München. Doch sich sang- und klanglos aus dem Staub zu machen, das ist auch nicht Lilienthals Art. Also brachte er irgendwie alles noch einmal zusammen: Regisseur Toshiki Okada aus Japan, der die Ära Lilienthal mitgeprägt hat und auch am Bolaño-Projekt beteiligt gewesen wäre, inszenierte in fünf Tagen eine „Opening Ceremony“ im Münchner Olympiastadion.
Es ist eine einmalige Veranstaltung. Das Münchner Olympiastadion mit seinen über 70.000 Plätzen ist eine gigantische und wunderbare Kulisse. 1972 fanden hier Eröffnungs- und Schlusszeremonie der Olympischen Spiele statt. Und nun also eine Eröffnungszeremonie ohne Spiele. Zum Abschluss einer Intendanz. Das coronabedingt überschaubare Publikum verteilt sich am Samstagnachmittag mit mehr als genügend Abstand auf der Westtribüne. Der Dauerregen hat gerade noch pünktlich aufgehört, es ist bewölkt, nicht zu kalt, nicht zu warm. Die Spielfläche ist so groß, dass sich das Ensemble fast darin verliert, Abstände von 1,5 Metern wären hier ein Witz, 10 Meter sind das geschätzte Minimum. Diese „Opening Ceremony“ ist, was sie verspricht: „eine kleine Geste des Abschieds“, unter den gegebenen Bedingungen. Keine Resignation, sondern ein Augenzwinkern. Kein Leugnen der Realität, sondern ein Das-Beste-daraus-Machen. Ein lange ersehntes Wiedersehen. Und auch: eine Art Neubeginn.
Ein weißbärtiger Mann dreht eine Runde im Gabelstapler. Er gehört wohl noch nicht dazu, genießt aber scheinbar seine fünf Minuten Aufmerksamkeit. Ein wenig sieht er aus wie Gott in einem Kinderbuch. Dann tönt es „Hallo!“ aus den Lautsprechern, die es überhaupt erst möglich machen, dass man in dieser Kulisse irgendetwas hört. Es ist Julia Riedler, die auf dem Dach des Olympiastadions entlang spaziert und sich fragt, warum denn diese „Opening Ceremony“ nun nicht in Tokio, sondern in München stattfindet. Doch bevor sie das erklären kann, muss sie dringend aufs Klo. Dafür wählt sie lieber die neuere Allianz Arena, drum fliegt sie superwomanlike per Flying Fox über das Stadion. Ein furioser Auftritt. Und weg ist sie. Erklärungen müssen also warten.
Was folgt, sind die Vorbereitungen für etwas, von dem niemand weiß, ob es stattfinden wird. Corona-Alltag quasi. Das Ensemble widmet sich (mit Gießkannen) dem Rasen und (mit sozialen Medien) den Gerüchten, was wann vielleicht möglich sein wird an Zeremonien, ob das „globale Event“ nun stattfinden kann oder nicht. Sie machen, was „Mario“ gesagt hat, denn der ist offenbar der Chef des Ganzen (vielleicht Lilienthals Alter Ego?). Jeder tänzelt und turnt für sich alleine herum, wie die Figuren in Okada-Stücken es auch vor Corona schon gerne taten. Kazuhisa Uchihashi spielt beinahe meditativ auf der E-Gitarre dazu. Walter Hess schwingt seine Gießkanne und bringt es auf den Punkt: „Heißt das, wir wissen gar nicht, wie lange wir uns um den Rasen kümmern müssen?“ Okada täuscht nicht vor, mit seinem 18-köpfigen Ensemble das Stadion füllen oder gar eine gewohnte Eröffnungs- (oder Abschieds-)Zeremonie simulieren zu können. Er spielt vielmehr mit der Verlorenheit der einzelnen auf der riesigen Fläche, ihrer Vereinzelung. Er inszeniert nicht das Event, sondern das Warten auf das Event. Und wie immer sucht er das große Ganze im Kleinen, ja Winzigen: Irgendwann tauchen vier grüngekleidete Gestalten auf den grünen Sitzen gegenüber auf, kaum sichtbar. Es sind die sorgsam gehegten und gepflegten Grashalme, die sich Gedanken über Kleesamen, über lange ausgebliebene und nun wieder ankommende Insekten machen. Über die Rückkehr der Natur, während die Menschheit stillsteht.
Mario stellt sich schließlich als Super Mario heraus, der weltrettende Klempner aus dem Nintendo-Universum der 80er-Jahre. Der Chef tritt gleich dreimal auf. Original und Fälschung? Oder ist Mario gar kein Individuum, sondern eine Spezies? Weltrettung im Kollektiv quasi? Samouil Stoyanov jedenfalls dreht im Kettcar seine Runden, verkündet, dass „everything“ irgendwann wieder „alright“ sein wird und macht Motivationsgymnastik mit dem Publikum. Damien Rebgetz erinnert, dass Mario „alle Pannen dieser Welt repariert“ und summt die Deutschland-Hymne. Und Julia Riedler, die am Ende von ihrem Toilettenbesuch zurückkehrt, inspiziert den Rasen und findet nicht nur den in einem Akt der Revolution ausgesäten Klee, sondern auch Pilze. Ob das nun Super-Mario-Superkraft-Pilze sind, bleibt offen, denn nun ist das knapp eine Stunde dauernde Assoziationsspiel zu Ende. Die Spieler*innen stellen sich mit viel Abstand wie eine Fußballmannschaft zum Applaus auf. Durch die Wolken bricht die Sonne und taucht alles in strahlendes Licht. Nach 19 Stunden Dauerregen ein kleiner magischer Moment. Level complete! Ein schöner Abschied nach fünf aufregenden Jahren.