Foto: Dominik Dos-Reis, Marius und Huth in „Die Befristeten“ im Zuschauerraum des Bochumer Schauspielhauses © Birgit Hupfeld/Schauspielhaus Bochum
Text:Andreas Falentin, am 10. Juni 2020
Zu Beginn gibt es ein Geschenk. Einen wort- und körperlosen Prolog haben sich Johan Simons, der Lichtdesigner Denny Klein und die Bühnentechniker Andreas Bartsch, Jan Hördemann, Fabian Hoffmann und Christoph Waßenberg ausgedacht. Da umspielen sich Laststangen in der Luft in eleganten geometrischen Mustern, ändert der Bühnenboden ständig seine Struktur, ist mal schiefe Ebene, mal Treppe, mal Schlucht. Eine gewaltige Wind- und Nebelmaschine drängt via Hubpodium ans Theaterlicht, dass sie aussehen lässt wie ein mächtiges Auge. Genau wie die auf und ab fahrenden Züge mit den nummerierten Gewichten ein Hinweis auf die folgende Handlung, an der das monströse Gerät übrigens keinen Teil haben wird. Die gesamte Theatertechnik scheint zu tanzen, die Rückkehr in den Spielmodus zu feiern, sehr abstrakt und doch nicht beliebig. Und wir knapp 50, die wir im ausgebeinten Zuschauerraum des Bochumer Schauspielhauses sitzen, in dem Teile der Sitzreihen improvisierten metallenen Wellenbrechern gewichen sind und viele Theatersessel ihrer Sitzfläche beraubt wurden, wir vergessen diese merkwürdige, kleine Depression, die einen befällt, wenn man sich mit so wenigen in einem so großen Raum zu verteilen hat, nach dem obligatorischen Hygienekonzept-Einlass. Wir vergessen sogar für Momente die Maske vor unseren Atemwerkzeugen, die wir in Bochum auch am Platz nicht ablegen dürfen.
Dann beginnt das Spiel. Elias Canettis „Die Befristeten“ erzählt schnörkellos und analytisch eine hässliche und irrwitzige Geschichte: Allen Menschen ist ihr Todeszeitpunkt vorherbestimmt. Sie tragen ihn in einer verschlossenen Kapsel um den Hals. Eine Ein-Mann-Behörde, der Kapselan, wacht über die Einhaltung der Daten. Dabei hilft ihm die Tatsache, dass alle Menschen nach der Zahl der ihnen zugewiesenen Lebensjahre benannt sind. Da der Tod auf diese Weise gleichzeitig mythisiert – man spricht vom „Augenblick“ – und enttabuisiert erscheint, haben die Menschen keine Angst und leben einfach in ihre Tage hinein. Als einer, er heißt 50, Zweifel an diesem System äußert, gerät die künstliche Harmonie dieser Gesellschaft ins Wanken. 50 findet heraus, dass viele Menschen ihr tatsächliches Alter gar nicht kennen, dass der Kapselan Leben – wie, wird nicht erzählt – willkürlich, vielleicht nach Altersschätzungen auslöscht, dass die Kapseln leer sind. 50 wird gebrochen, als irrer Außenseiter gebrandmarkt. Trotzdem führt seine Artikulation des Zweifels mittelbar zur Erosion seiner Gesellschaft.
Johan Simons erzählt das im Zentrum klar und kleinteilig, an den Rändern, in den Nebenhandlungen, bewusst mit groben Pinseln. Im Wesentlichen werden die Parketttüren und der vordere Bereich der Bühne bespielt. Rot als bestimmende Farbe der Kostüme von Britta Brodda und Sofia Donazio Brockhausen gibt der Gesellschaft der Befristeten etwas Sektiererisches, entfernt sie von uns. Wir sehen einer Art Versuchsanordnung zu, der etwas Provisorisches anhaftet.
Das mag natürlich auch der Tatsache geschuldet sein kann, dass Johan Simons und sein Team die Aufführung kurzfristig aus dem Boden gestampft haben, ihnen keine üppige Probenzeit zur Verfügung stand. Was man dem Spiel des neunköpfigen, von Stefan Hunstein (50), Elsie de Brauw (sein Freund) und Jing Xiang (Kapselan) angeführten Ensembles übrigens abgesehen von kleinen Textunsicherheiten in keiner Weise anmerkt.
Aber warum wählt man heute in dieser Situation dieses selten gespielte, 60 Jahre alte Stück? Eine denkbare Verbindung ist der Konsens-Opportunismus, der die „Befristeten“-Gesellschaft zusammenhält und dann in eine Tyrannei der Masse umkippt. Das lässt schon an die ersten Corona-Wochen denken, in denen Abweichungen von der herrschenden Meinung etwa in den sozialen Netzwerken extrem hart mit Massenbeschimpfungen bestraft wurden.
Was bleibt von diesem Abend, neben der tanzenden Technik und der Freude darüber, dass ein großes Theater wieder spielt, was sich wirklich einprägt, ist vor allem ein Bild: Nachdem die Artikulation seiner Zweifel folgenlos geblieben ist, der Kapselan 50 zum Widerruf gezwungen und so zum Außenseiter gestempelt hat, sitzt Stefan Hunstein plötzlich allein auf dem Fragment einer Theatersesselreihe, die Maske vor dem Gesicht. Plötzlich Zuschauer. Und wir vorher nicht gerade in jedem Moment gefesselten Zuschauer erschrecken. Wir erschrecken alle. Es ist deutlich zu spüren im Raum.
Johan Simons setzt uns ein Gleichnis vor. Aber er bietet keine Deutung an, was bekanntlich eine Eigenheit seines Theaters ist. Wir müssen uns da selbst hinein- oder herausdenken. Sind wir, die Zuschauer, die Außenseiter, die Eindringlinge in die Welt des Theaters, nur Mittel zum Zweck, um die Kunstmaschinerie am Leben zu erhalten? Nicht mitbestimmendes Zentrum? Nicht mal ein bisschen? Haben wir auch außerhalb des Theaters nur die Wahl zwischen Pest und Cholera? Entmündigung durch Mitschwimmen in der Masse oder durch Stigmatisierung als irrelevanter Außenseiter?
Während wir uns dagegen noch wehren, geht das Spiel weiter. Der Kapselan kapselant nicht mehr. Jeder darf und muss sein Leben selbst gestalten. Dazu gehört auch die neue Verantwortung für und Macht über den Tod. So geschieht ein Mord, fast ein Sündenfall, und Simons lässt sich diesen erschreckend sanft ereignen. Der Horror ist am intensivsten in der Nähe.
Wir haben nichts Neues erfahren über die künstlerische Arbeit dieses Regisseurs an diesem Abend. Aber einiges zu denken mitbekommen.