Foto: Thomas Prazak im Monolog von Nikolai Gogol © Jan Pieter Fuhr
Text:Ulrike Kolter, am 9. Juni 2020
„Ich brauche Menschen um mich. Ich habe kulturelle Bedürfnisse…“ wimmert Aksenti Iwanow Propristschin, der monologisierende Beamte in Nikolai Gogols „Tagebuch eines Wahnsinnigen“, während er in diesem riesigen weißen Zimmer herumläuft und Kalenderblätter abreißt gegen den unerbittlichen Frust seiner Vergänglichkeit. Als Zuschauer ist man diesem Kampf des Protagonisten mit dem eigenen Wahnsinn ausgeliefert, sitzt man doch inmitten des Raumes – einer Art Hinterbühne. Mit VR-Brille auf dem Kopf folgt man Propristschins Schritten in 360 Grad, kann nicht wegsehen, will ihm beistehen und ist doch genauso allein wie er in seiner Isolation. Ziemlich pandemietauglich, dieses Ein-Mann-Stück.
Es ist nach „Judas“ und „shifting_perspective“ die dritte Produktion dieser Spielzeit am Staatstheater Augsburg, die man in Virtual Reality als digitales Angebot auch in Corona-Zeiten bequem nachhause bestellen kann. Die VR-Leihbrille kommt für 9,90 Euro per Paket ins Stadtgebiet, wer ein eigenes Modell hat, kann auch nur das Video-on-Demand für 5,90 Euro anfordern: ein Schnäppchen geradezu, bedenkt man die immensen Produktionskosten. Die technische Umsetzung – wiederholt realisiert von der Augsburger Digital-Agentur heimspiel – funktioniert reibungslos, die Tonqualität sowohl der Sprechstimme als auch der verwendeten Klaviermusik ist formidabel ausgesteuert (man nutzt selbst angeschlossene Kopfhörer). Und die Inszenierung von Staatsintendant André Bücker weiß die theatralen Möglichkeiten auszuschöpfen, um dem Zuschauer auch daheim ein nahezu authentisches Bühnenerlebnis zu erschaffen. Ganz ehrlich: Da kann keines meiner bisherigen Theater-VR-Erlebnisse mithalten!
Der Schauspieler Thomas Prazak gibt den kleinbürgerlichen Ministerialangestellten Propristschin, dessen Zwangsneurosen das komplette Bühnenbild prägen: seine Hose, das Hemd, Schuhe und Aktentasche, ja sogar Zeitungsstapel sind akkurat auf dem Boden verteilt und mit weißem Tape in quadratischen Felder sortiert. Anziehen, zur Arbeit gehen, die Bleistifte des Staatssekretärs anspitzen, heimgehen, ausziehen. Da muss man ja wahnsinnig werden ob der eigenen Bedeutungslosigkeit! Propristschin ist sich seiner Einsamkeit bewusst, das macht es nicht leichter. Während er vom stumpfen Arbeitsalltag mit mobbenden Kollegen berichtet, von der unerfüllten Liebe zur Tochter des Staatssekretärs, wuselt er durchs Zimmer, reißt gelbe Klebezettel von den Wänden, zitiert Weisheiten von Feuerbach bis Lessing aus diversen Abrisskalendern. Zieht sich an, geht arbeiten, zieht sich aus. Immer mehr steigert sich die Beamtenseele in paranoide Vorstellungen, belauscht Gespräche von Hunden, hält sich schließlich für die Inkarnation des Königs von Spanien. Bei der Einweisung in die Geschlossene schließlich verschwimmen Propristschins Bilder von Folter, höhnenden Kollegen und Machtfantasien… Erlösung im Wahn?
André Bücker nutzt die virtuellen Möglichkeiten geschickt, verbildlicht die Paranoia der Hauptfigur mit gedoppelten Hologrammen, dessen wahnhaftes Kopfkino mit schwarzen Zeichnungen an Wänden und Decken, die plötzlich auftauchen und wieder verschwinden. „Fassung, schweig still…“ versucht sich Propristschin immer wieder selbst zu regulieren, bemitleidenswert schutzlos in seiner weißen Feinrippunterwäsche. „Ich kann nicht mehr, mein Kopf platzt, bringt mich raus aus dieser Welt.“ Was Isolation mit dem sozialen Wesen Mensch machen kann, war in diesen Wochen mehr denn je spürbar. Wie Theater auch im virtuellen Raum berühren kann, hat diese Produktion eindrücklich bewiesen.