Energisch: das junge Ensemble von UNTITLED [2020]

Die Kraft des Online-Aktivismus

Henrike Iglesias & Ensemble: UNTITLED [2020]

Theater:Münchner Kammerspiele, Premiere:15.02.2020 (UA)Regie:Henrike Iglesias

„Untitled [2020]“ feierte am 15. Februar 2020 am Jungen Theater Basel Premiere, also gerade noch rechtzeitig, bevor die Theater schlossen. Die Produktion stammt vom Theaterkollektiv Henrike Iglesias, deren Performerinnen und Performer sich in ihrer Arbeit im Allgemeinen mit Bodyshaming, Racism, Ableism, Sexualität, Homophobie, toxischer Männlichkeit etc. auseinandersetzen – sozialrelevante Themen also, die allerdings leider oft vom Theater unbeachtet bleiben und insbesondere, allerdings natürlich nicht ausschließlich, im freien Theater und auf kleineren Bühnen verhandelt werden. Zum Glück sind Henrike Iglesias, deren Performances zumindest für mich ausnahmslos grandios sind, fester Bestandteil der Münchner Kammerspiele und so auch einem größeren Publikum zugänglich.

„Untitled [2020]“, das nun in einer Onlineversion angeschaut werden kann, teilt sich in zwei Teile, beginnend mit einer Instagram-Story und folgenden Video-Clips für Instagram-TV. Im ersten Teil werden vor allem die Performenden des Jungen Theater Basels, mit denen das Kollektiv Henrike Iglesias kooperiert, vorgestellt: Paula, Naila, Dilan, Elif, Rabea und Linarosa. Entgegen der weitverbreiteten Darstellung des perfekten, aber retuschierten, gesunden, glücklichen und erfüllten Selbst auf Instagram, das jeder Schönheitsnorm entspricht, zeigen sich die Spielenden ungeschönt, ungeschminkt und unperfekt, so wie eben jeder und jede ist. Sie rufen während Corona und des Zuhausebleibens zu einer Online-Demo auf, denn wir können nicht einfach nur zuhause rumsitzen, sondern es gilt, Probleme zu lösen. Demonstriert werden soll gegen Sexismus, Ableismus, Rassismus, Homo-, Bi- und Transphobie, Ländergrenzen, Klassismus, Kapitalismus, Klimawandel, Massentierhaltung, Atomkraft, sexualisierte und häusliche Gewalt, Abtreibungsverbot, Bodyshaming und Slutshaming. Die sechs Performenden verhandeln nicht alle Themen in ihrem Online-Aktivismus, aber dennoch viele.

#Ally. Paula – weiße cis-Frau, die Abitur hat und in der Schweiz lebt, keine körperliche Beeinträchtigung und Kleidergröße 34 hat – hat zahlreiche Privilegien, ist also selbst gegebenenfalls nicht Betroffene von Unterdrückungsmechanismen, allerdings will sie als Ally aktivistisch tätig sein. Als weiße Person kann sie beispielsweise eine Gruppe von unterdrückten Menschen unterstützen und deren Stimme so verstärken, ohne selbst zur Gruppe zu gehören. MAKE EMPATHY HAPPEN!

#Stop. Rabea – als Person of Color beschreibt Rabea ihre eigene Existenz schon als politisch und klärt über Alltagsrassismen auf. Ihr werden Komplimente gemacht, am Anfang eher belanglose, bis diese ihre Komfortzone deutlich überschreiten, als man ohne ihre Zustimmung in ihr Haar (ihre Großmutter nennt es „Gestrüpp“) fassen will. NEVER TOUCH A BLACK PERSON’S HAIR! (Ergänzung: NEVER TOUCH ANYONES HAIR! – zumindest nicht ohne Zustimmung).

#FckdichEins/Zwei/Drei. Dilan schildert drei kurze Situationen, in denen das Schamgefühl einen schönen Moment ruiniert. Sie spricht einen Typen an und sagt etwas Peinliches, liegt mit ihm im Bett und stellt ihren Körper in Frage, schämt sich für das Bedürfnis, aufs Klo gehen zu müssen. Untermalt werden diese Schamsituationen durch drei kurze Songs, die auch deutliches Ohrwurm-Potential haben. Danke Scham, dass du mir den Spaß verdirbst. Danke Scham, ich fight dich, bis ich sterb!

#Bromance. Elif setzt sich mit Bromance auseinander, also der Freundschaft unter Männern und der Tatsache, dass Gefühl und Mitgefühl dort oft eher keinen Platz haben. Die Umarmung wird durch ein unsicheres Klopfen auf die Schulter des schönen Gefühls beraubt, über das tatsächliche Befinden wird nicht geredet. In einer ASMR-Session zeigt Elif das, was in der Gesellschaft nötig ist, nämlich ein anderes Verständnis von Männlichkeit, eines, das nichts mit toxischer Männlichkeit zu tun hat. Die Bros reden über Gefühle, machen sich beim Zocken eine Gesichtsmaske und sehen ein, dass das nichts mit gay zu tun hat.

#nocommentmeanstalent. Naila, die konstruierten Schönheitsmaßen nicht entspricht, befasst sich mit dem Thema Bodyshaming und erzählt von Blicken und verbalen Äußerungen, denen sie immer wieder ausgesetzt ist, da Menschen meist auf ihre Körper reduziert werden. Sie fordert auf, andere Menschen nicht zu kommentieren, sondern lieber den Mund zu halten.

#ichbinschnelleralsdu. Linarosa klärt schließlich über Ableism auf und über die immer noch nicht stattfindende Inklusion im Alltag von Menschen mit Be_Hinderung. Öffentliche Stellen werden aus finanziellen Gründen geschlossen wie 2015 die Fachstelle für Gleichstellung für Menschen mit Behinderung in Basel, beim Bauen barrierefreier Klos werden keine Menschen einbezogen, die wirklich betroffen sind, Hindernisse im Alltag sind keinem wirklich bewusst. Linarosa ruft deshalb zur Steigerung der Sichtbarkeit von Menschen mit Be_Hinderung auf und dazu, aufzuzeigen, was im Alltag nicht barrierefrei ist.

Mit diesen 6 kurzen Video-Selbstportraits im Instagram-Format zeigen Henrike Iglesias und die Performenden auf, was Selbstdarstellung noch sein kann außer einer Lüge vom vermeintlich Perfekten. Es hat politisches, empowerndes und emanzipatorisches Potential, Menschen können auf Social-Media-Kanälen aktivistisch sein, von Alltagsproblemen, -hindernissen und -rassismen sprechen, aufklären, Identifikation ermöglichen und Solidarität schaffen. Ein cooles Format, das auch nach Corona weitergehen sollte!