Foto: Potosí TV, Folge Eins © Theater an der Ruhr
Text:Florian Welle, am 16. Mai 2020
„Alle Dinge, die sich bewegen, haben einen Spiritus“, referiert ein Anthropologe namens Anza Pamber in einer Talkshow über die Weltsicht unserer Vorfahren. Dann legt er nach und fragt: „Wo ist er?“ Die Frage zielt ins Zentrum des Stückes „Potosí TV“, das ein dichtes Assoziationsgeflecht spinnt, dessen einzelne Fäden von Sophoklesʼ „Antigone“-Drama über dessen aktuelle Überschreibung in Thomas Köcks Stück „antigone. ein requiem“ bis zum Kolonialismus-Diskurs reichen. Diesen entfacht allein die Nennung der Stadt Potosí in Zentralbolivien – jahrhundertelang ließen die Spanier dort die indigene Bevölkerung in den Silberminen am Fuße des Cerro Rico, des Reichen Berges, zur eigenen Bereicherung schuften. Ob Potosí wirklich die „Wiege des Kapitalismus“ war, wie es einmal heißt, sei dahingestellt. Auf alle Fälle trug das dort geförderte Silber ganz wesentlich zur Vormachtstellung Europas auf der Welt bei, während schätzungsweise acht Millionen Ureinwohner die gefährliche Arbeit mit dem Leben bezahlten.
Wo der „Spiritus“, also die Seele hin ist, fragen sich angesichts leerer Aufführungsorte derzeit auch die Theatermacher und reagieren auf je eigene Weise auf die Krise. „Potosí TV“ von Simone Thoma unter Mitarbeit von Markus Schlappig ist die erste Internetproduktion des Theaters an der Ruhr. Dort wollte man weder Stücke streamen noch Theater durch eine allzu filmische Herangehensweise verwässern. Stattdessen entwickelte man das Konzept einer mehrteiligen performativen Talkshow. Was keine ganz neue Idee ist, da in den vergangenen Jahren häufiger Fernsehformate auf den Bühnen simuliert wurden. Während des Lockdowns wurde mit den Schauspielern Fabio Menéndez, Dagmar Geppert, Gabriella Weber, Maria Neumann und Roberto Ciulli im gesamten Theatergebäude die erste Folge von „Potosí TV“ gedreht – mal sehen wir die Schauspieler auf leerer Bühne sitzen, sprechen und telefonieren, mal in den Eingeweiden des Theaters herumirren, mal gibt es Video-Einspielungen. Am Freitagabend war auf dem Youtube-Kanal des Theaters Premiere. In den kommenden Wochen sollen dann in vierzehntägigem Abstand die Folgen Zwei und Drei produziert und ausgestrahlt werden. „Potosí TV“ ist also als work in progress angelegt, was aktuell ein bewertendes Resümee unmöglich macht. Man muss sehen, wie es sich entwickelt und ob am Ende die zuhauf ausgeworfenen Assoziationsfäden sich zu einem Ganzen fügen. Vor allem ob eingelöst wird, was angekündigt wurde: nämlich zu zeigen, „wie wir uns ein Bild von der Welt machen, in diesen Bildern wie in Blasen leben und ihnen schließlich nicht mehr entfliehen wollen noch können, bis sie platzen“.
Was sich nach der ersten Folge sagen lässt: Idee und Umsetzung machen neugierig auf die Fortsetzungen, zumal bereits nach 35 Minuten mit einer Art Cliffhanger wieder Schluss war. Was sich ein wenig anfühlte, als würde man im Regen stehen gelassen. Aus dem Off rezitierte eine verzerrte Stimme den Chor, wie ihn Thomas Köck für seine im vergangenen Herbst in Hannover uraufgeführte Antigone-Totenmesse umfunktioniert hatte. Dieser Chor spricht: „wir wollen endlich stille schweigen/silence yoga retreatcamps und keine internierungslager mehr.“ Worte, die den antiken Mythos vom adäquaten Umgang mit den Toten brutal ins Heute zerren. Bei Köcks „Antigone“ geht es nicht mehr um die Rechtmäßigkeit der Beerdigung ihres Bruders Polyneikes durch Antigone. Sondern hier geht es um die ertrunkenen Flüchtlinge, die den Weg übers Mittelmeer nach Europa nicht überlebt haben: „europa liegt am strand und die toten kehren wieder.“ Wie mit ihnen umgehen? Auch das reißt die erste Folge an, wenn Fabio Menéndez kurz als König Kreon zu sehen ist und sich über geltendes Recht hinwegsetzen will: „manchmal gehören gesetze überdacht/grundrechte aktualisiert.“
Damit kein Missverständnis entsteht: „Potosí TV“ ist keine Umsetzung von „antigone. ein requiem“. Köcks Stück dient hier lediglich als ein Improvisationsfaden von vielen. Dagmar Geppert als Antigone und Gabriella Weber als Ismene haben im ersten Teil nur Kurzauftritte. Falls die erste Folge überhaupt so etwas wie ein Zentrum besitzt, dann die Talkshow inklusive Live-Schalte nach Potosí, wo wir von der Reporterin Privacy Niece – ebenfalls von Gabriella Weber gespielt – über die wechselvolle Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner informiert werden. Hängen bleibt vor allem eines: „Eingang zur Hölle“ haben einst die Bergarbeiter den Eingang zur Silbermine am Cerro Rico genannt. Dies gewinnt im Verlauf der ersten Folge noch einmal eine neue Bedeutung, wenn der von Fabio Menéndez schön schmierig gespielte Talkshowmaster Obdahir Smoothhard den eingangs erwähnten Anthropologen Anza Pamber zu sich ins Studio bittet.
Roberto Ciulli ist Anza Pamber und als solcher der schauspielerische Höhepunkt des ersten Teils. Ciulli röchelt hinter seinem Palästinenserschal erstmal Unverständliches, um ihn dann runterzuziehen und über die Evolution des Menschen zu referieren. Im Gegensatz zu den ausgebeuteten Bergarbeitern waren Berge für unsere Vorfahren nicht der Eingang zur Hölle, sondern spirituelle Kultstätten, an denen die Toten verehrt wurden. Der „Spiritus“, von dem alle Dinge beseelt waren, ehe er von der Gier nach Silber und Gold vertrieben wurde, existierte noch. „Der Mensch hat etwas vergessen“, raunt Ciulli als Anza Pamber, „Empathie für andere Tiere und Menschen. Total vergessen.“ Automatisch ploppen nun im Kopf Bilder von steinzeitlichen Höhlen wie der Chauvet-Höhle mit ihren kunstvoll verzierten Wänden auf. Ein Bild, das sich zu bestätigen scheint, wenn man am Ende Roberto Ciulli zusieht, wie er, nur mit einer Taschenlampe ausgerüstet, die Kellerwände des Theaters an der Ruhr abtastet, als wäre er ein Höhlenforscher. Man darf gespannt sein, wie das „Potosí TV“-Team in den kommenden Wochen Höhle und Hölle, Recht und Gesetz, Seele und Geld vor dem Hintergrund des Antigone-Stoffes weiter miteinander verflicht und verknotet. Denn heute schielt die ganze Welt auf die reichhaltigen Lithium-Vorkommen, die in der Nähe Potosís unter der Erde lagern und darauf warten, auf Kosten der einheimischen Bevölkerung für unsere Mobilitätswende ausgeschlachtet zu werden.