Foto: Drei Generationen und drei Geschichten, die einander ähneln: Clara (Julia Wieninger), Anna (Gala Othero Winter) und Bonnie (Sandra Gerling) © Stephen Cummiskey
Text:Jens Fischer, am 3. Mai 2020
Eingeholt von schmerzhaften Erinnerungen, Ängsten, erbarmungslosen Selbstzweifeln – macht sich ganz tief drinnen eine immer wieder überwältigende Antriebslosigkeit breit. Niedergeschlagenheit. Ein Sich-Selbst-Verlieren. Erst als Ausdruck von Willensschwäche und Disziplinlosigkeit interpretiert, schließlich als psychische Erkrankung verstanden. Nachdem zur Eröffnung des 57. Theatertreffens der Hamlet Sandra Hüllers zwischen bodenloser Traurigkeit, existenzieller Einsamkeit und Resignation schwankte, geht es in der zweiten Präsentation des in den virtuellen Raum verlegten Festivals um Depression. „Anatomie eines Suizids“, die deutschsprachige Erstaufführung eines Stücks von Alice Birch, hat Katie Mitchell auf der großen Bühne des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg inszeniert.
Unbestritten ist die Relevanz des in Theatern eher selten verhandelten, weil kassengiftigen Themas. Jährlich sterben in Deutschland rund 10.000 Menschen durch Suizid, 80 Prozent davon litten zuvor unter psychischen Störungen, meist depressiven Erkrankungen. Das sind mehr Menschen als jene, die durch Verkehrsunfälle, Drogen, Aids und Mord ums Leben kommen. Laut der Statistikbehörde der EU wurde einem von zehn Deutschen eine chronische Depression diagnostiziert, Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer.
Was die „Anatomie eines Suizids“ künstlerisch so herausragend macht? Großartige Darsteller, ein illusionistisch perfektes, symbolisch sprechendes, atmosphärisch überwältigendes Bühnenbild und eine atemberaubend präzise Regie sind Qualitätssiegel jeder Mitchell-Arbeit. Das Besondere jetzt ist die verwendete Textpartitur, mit der drei Stücke parallel auf der Bühne zu inszenieren sind, einem wuchtigen Betonbunker, gegen den auch ein wenig Stehlampenheimeligkeit nichts ausrichten kann. Vor drei Eisentüren entfalten sich in Spotlights drei Frauentragödien. Ganz links sehen wir Clara (Julia Wieninger), gerade vom Pulsadernaufschlitzen heimgekehrt und zum Weiterleben überredet mit der Idee, doch ein Kind zu bekommen. Aber Mutterschaft, Psycho-, pharmazeutische und Elektroschocktherapie helfen nicht. Eine ratlos Getriebene ist zu verfolgen auf ihrem angekündigten Weg in den Selbstmord, den sie unter Aufbietung ihrer schwindenden Kräfte nur so lange herausschiebt, bis ihre Tochter die Schule abgeschlossen hat. Diese Anna (Gala Othero Winter) ist in der Bühnenmitte zu erleben. Als sex- und partysüchtiger Junkie versucht sie die Vorgeschichte und die eigene Depression wegzudrücken, schließlich ebenso hilflos wie die Mutter mit Heiraten und Kinderkriegen zu verdrängen. Ein Quälerei, von der sich Anna ebenfalls suizidal erlöst. Ihre Tochter Bonnie (Sandra Gerling) ist rechts auf der Bühne eine unnahbare Figur, schreckhaft und verloren, mit zynischer Arroganz sowie dem Rückzug in die Einsamkeit sucht sie einen Umgang mit der Krankheit – und lässt sich schließlich sterilisieren, um die Weitergabe des scheinbar unausweichlichen Familienschicksals zu beenden.
Alle drei psychologisch etwas holzschnittartigen Geschichten finden parallel statt, wobei sich die Dialoge verzahnen, Motive und Formulierungen wie auch Bewegungsmuster von einer Szene in die nächste gleiten – und so die behauptete Vererbung von Traumata und Depression die dramatische Form bestimmt. Diese Komposition ist ästhetisch so beeindruckend wie inhaltlich fraglich. Ein rein genetischer Determinismus, der keinen Raum für Selbstbestimmung und positive Einflüsse sozialer Kräfte zulässt, scheint derzeit nicht Stand der Depressionsforschung zu sein. Studien haben zwar den Nachweis erbracht, dass Kinder eine um 50 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit haben, selbst zu erkranken, wenn ein Elternteil betroffen ist. Es ist von einer erblich vorbestimmten Anfälligkeit die Rede, zu der äußere Faktoren wie chronischer Stress, Verlusterlebnisse, Krisen als Auslöser hinzukommen müssen, damit das Leiden ausbrechen kann. Aber es heißt nicht, dass es ausbrechen muss.
Der online präsentierte Stream des Stücks ist die abgefilmte Generalprobe. Das Ensemble konzentriert sich sehr stark auf die Stichworte und das Timing, die Mechanik der ineinander greifenden Dialoge ist noch nicht in gut geölt selbstverständlicher Bewegung. Auch kommt der Ton nicht so daher, dass immer sofort klar zu orten und herauszuhören ist, wer gerade spricht. Dass zumeist die gesamte Bühne statisch im Fokus steht, macht allerdings Sinn, um das horizontale Erzählen, die Gleichzeitigkeit der Geschichten abzubilden. Nur funktioniert es auf dem TV-Schirm nicht wie einst im Schauspielhaus, selbst hier- und dorthin zu zoomen, um zu verfolgen, wie das Geschehen und die Worte einander bedingen. Aber das Video vermittelt einen sehr guten ersten Eindruck von dem Stück, der Inszenierung und Darstellung. Was bei der Güte dieser Arbeit ausreicht, um die Einladung zum Theatertreffen als eine der Top-Produktionen der Corona-Saison nachvollziehen zu können.