Foto: Gigantische Raumbühne Babylon: Eduardo Aladrén (Mitte), Ki-Hyun Park (links) Chor und Extrachor der Oper Halle, Statisterie der Oper Halle, Staatskapelle Halle. © Falk Wenzel / Theater, Oper und Orchester GmbH Halle
Text:Joachim Lange, am 1. Mai 2020
Dieses ganz spezielle Verdi-Requiem in der Oper Halle gehört zu den Inszenierungen, für die das Streamen ein Weg aus der Coronafalle ist. Das visionäre Potential hat sich durch die gegenwärtige Krise auf verblüffend beklemmende Weise verstärkt. Zugleich bleibt dem Publikum das unmittelbare Erlebnis in der Raumbühne „Babylon“ von Sebastian Hannak in der Videoversion zu einem großen Teil vorenthalten. Eine Aufzeichnung kann hier, anders als im Falle des quasi protokollierenden Eindrucks einer Guckkastenbühne, das spezielle Raumgefühl der Zuschauer, jenseits der konventionellen Aufteilung von Bühne und Zuschauerraum, nur annäherungsweise wiedergeben…
Seit dem Durchstarten der Oper Halle mit einem digitalen Angebot ambitionierter Eigenproduktionen ist das „Requiem“ (nach „Sacrifice“) die zweite Raumbühnenproduktion, die dem streamingaffinen Publikum erschlossen wird. Und sie ist ähnlich überzeugend gelungen wie schon die Aufzeichnung der vom Opernhaus in Auftrag gegebenen Dschihad-Oper von Sarah Nemtsov. Die hatte Florian Lutz in der mit dem FAUST-Preis ausgezeichneten ersten Hallenser Raumbühne Heterotopia inszeniert. In ihrer weiterentwickelten Form ist sie jetzt unter dem Namen Babylon der adäquate Raum für die postapokalyptische szenische Umsetzung von Verdis „Messa da Requiem“.
Der Grundeinfall der Inszenierung ist schräg und baut auf die Aufgeschlossenheit des Publikums. Florian Lutz und sein Team entfesseln ein ganz spezielles Affentheater. Der auf 70 Köpfe aufgestockte Chor steckt (und am Anfang auch einige Zuschauer) in Affenmasken. Keine Ahnung, ob die gegen Viren helfen würden. Lutz fasst konsequenter als manch anderer Regisseur Verdis 1874 uraufgeführtes Werk, das der Form und dem Namen nach eine Totenmesse ist, als Steilvorlage für die Bühne auf. Babylon imaginiert eine Stadt nach einer Katastrophe. Diese Vorgabe wird auf die Spitze getrieben – hier haben die Affen die Macht übernommen. Der Filmklassiker „Planet der Affen“ wird als bekannt vorausgesetzt. Während sich das Publikum noch seine Plätze sucht, schlendern Affen über die Spielfläche, hängen an den Gerüsten oder fuchteln mit Bananen herum. Für das Publikum stehen der überbaute Zuschauerraum, die mit Galerieplätzen ausgestatteten drei Bühnenseiten und die eigentlichen Ränge zur Verfügung. Von dort aus wird das gesamte Geschehen dann doch wieder zu einer klassischen, wenn auch stark erweiterten Guckkastenbühne.
Der szenische Rahmen für die Musik und den Text ist ein Zeitsprung in die Zukunft, in der die Menschen ihre Macht über den Planeten an ihre Vorfahren verloren haben. Zum wuchtig ausbrechenden Dies Irae erschlägt ein Leitaffe (ganz nach biblischem Vorbild) einen Konkurrenten und beglückt danach „seine Leute“ mit Cola-Büchsen und Bananen. Überlebende Menschen gibt es nur noch auf Inseln zwischen Müllsäcken, in einem alten Kleinbus oder in einem offensichtlich unentdeckten Labor. Romelia Lichtenstein, Eduardo Aladrén, Ki-Hyun Park und Svetlana Slyvia übernehmen diese Rollen mit vehementem vokalem und darstellerischem Einsatz. Sie verhalten sich allzu menschlich, denn sie versuchen, die Reste ihrer Technologie nicht als Waffen der Befriedung, sondern zur (notfalls auch kompletten) Ausrottung der Affen einzusetzen.
In der mitgeschnittenen Vorstellung vom 22. Juni 2019 hatte der Kapellmeister der Staatskapelle, Michael Wendeberg, die Leitung des im Zentrum des Geschehens platzierten Orchesters vom Premierendirigenten Christopher Sprenger übernommen. In der jetzt online zur Verfügung stehenden Version erschließen sich durch die Schnitte und Einstellungen auch die eingebauten Videos (Konrad Kästner), vor allem mit Beispielen individueller und gesellschaftlicher Ausraster angesichts diffus wirkender Veränderungen der Lebensumwelt, klarer als mitten im Geschehen, wo jeder Zuschauer selbst den Fokus für seinen Blick wählen muss. Was wir erleben, ist eine ästhetisch überhöhte Variante jenes Rückfalls in die Barbarei, die im 19. Jahrhundert kein geringerer als Karl Marx als Zukunftsoption nicht ausschloss.
Zum Finale, dem „Libera me“, also „Befreie mich“, tauchen die Menschen aus der Versenkung wieder auf. In Formation, mit weißen Kitteln und blonden Perücken kommen sie ebenso vereinheitlicht daher wie vorher die besiegten Affen. Jeder zückt sein Smartphone und gibt dort seine individuellen Wünsche nach Befreiung (von schlechtem Wetter, von Krankheit oder von Helene Fischer) ein. Mit diesem Triumph des Egoismus hält diese Inszenierung keine Antworten, sondern viele Fragezeichen bereit. Tröstlich ist das nicht. Ein Herausforderung zum Nachdenken aber schon. Verdis geniale Beinahe-Oper als Vorlage für die Vision einer selbstverschuldeten oder zumindest nicht aufgehaltenen großen Katastrophe: Das ist in Zeiten, da sie nur als Videostream angesehen werden kann, noch beklemmender und packender als zu der Zeit davor, in der der Abend vor allem die Fans von grenzüberschreitendem Musiktheater begeisterte.