Foto: "Rückkehr nach Reims" an der Berliner Schaubühne © Arno Declair
Text:Saskia Burzynski, am 17. April 2020
Uraufgeführt wurde „Rückkehr nach Reims“ nach Didier Eribon (in der deutschen Übersetzung von Tobias Haberkorn) als dokumentarisches Essay bereits im September 2017 an der Schaubühne in Berlin, Regie führte Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier. Nun ist es fast drei Jahre später als Onlinestream zu sehen.
Das Bühnenbild ist ein schlichtes, in Ockertönen gehaltenes Tonstudio, in dessen Zentrum Nina Hoss als Katrin den Film von Regisseur Paul, gespielt von Hans-Jochen Wagner, einspricht. Dieser dokumentarische, collagenhafte Film läuft, zumindest im Stream, übergroß über Nina Hoss ab, und nimmt so auf meinem Bildschirm den größten Platz ein. Ich habe so fast durchweg das Gefühl, nicht eine Theaterinszenierung, sondern einen Dokumentarfilm zu sehen. Einen Film, für den Thomas Ostermeier sogar Didier Eribon selbst gewinnen konnte – es findet nun analog zu seinem 2009 (in Deutschland erst 2016) veröffentlichten soziologischen und autobiographischen Werk „Rückkehr nach Reims“ eine tatsächliche Rückkehr in die Stadt, in der er geboren ist und aufwuchs, statt. Man sieht ihn im Schnellzug durch eine öde Landschaft fahren, er ist auf dem Weg zu seiner Mutter in triste Vororte von Reims, die geprägt sind von Armut und Perspektivlosigkeit. Ohne jegliche Individualität sind die immer gleichen Reihenhäuser, Plattenbauten und Einheitsstraßen nebeneinander aufgereiht. Bei seiner Mutter angekommen, betrachtet er mit ihr alte Kindheitsfotos, spricht über Geschichten von damals – ein wenig verwunderlich, wird doch in „Rückkehr nach Reims“, aber auch im Nachfolgebuch „Gesellschaft als Urteil“ vor allem die soziale Scham, die Eribon für seine Herkunft aus dem Arbeitermilieu empfindet, deutlich und seine Furcht davor, öffentlich Bilder seiner Kindheit und Jugend zu zeigen. Jetzt, acht Jahre nach der Veröffentlichung in Frankreich, tut er es schamlos und auf Großleinwand.
Mithilfe von Teilen des Texts von Eribon zeichnet Paul (Hans-Jochen Wagner) den Weg eines Klassenflüchtigen nach. Eribon, der seine Abkehr von seiner Familie, vor allem dem Vater und Bruder, und dem Arbeitermilieu lange Zeit vor allem mit seiner Homosexualität rechtfertigte beziehungsweise der Homophobie, der er als Jugendlicher und junger Mann ausgesetzt war, sieht nun in der Retrospektive die Flucht vor allem als eine soziale Scham. Eine Scham davor, dass Kinder in der Arbeiterklasse mit 14 die Schule verlassen, um arbeiten zu können, Bildung also unwichtig scheint, wie alteingefahren und sexistisch Geschlechterrollen sind, auf welch engem Raum gelebt wird, wie perspektivlos das Leben der Arbeiter und Arbeiterinnen ist, wie es kein Kunst- und Literaturinteresse gibt und so weiter. Didier Eribon, der seiner Familie und Herkunft über mehrere Jahrzehnte den Rücken zukehrte, um sich dem Leben im Pariser Intellektuellenmilieu zu widmen, sieht den verhassten Vater bis an dessen Lebensende nicht wieder. Nach Reims kehrt er nur deshalb zu seiner Mutter zurück, um mit ihr eine Art Bindung aufzubauen. Die persönliche Verbindung zum Arbeitermilieu nutzt Eribon, um darauf aufbauend eine politisch-soziale Analyse durchzuführen. Es geht dabei um das Phänomen, dass die Arbeiterklasse, ehemals kommunistisch, links-wählend, nun geneigt ist, rechts(-nationalistisch) zu wählen. Eribon zeichnet in einer messerscharfen und äußerst wortgewandten Analyse nach, wie das Gefühl des Abgehängtseins und der Vertrauensmissbrauch der Linken schließlich dazu führten, das Vertrauen dem Front National zu schenken. Dies kann wunderbar nicht nur auf Frankreich, sondern ebenso auf Deutschland und die AfD sowie sämtliche Rechtsströme, die es schon seit Jahren in der Politik weltweit gibt, übertragen werden.
Der über zwei Stunden lange Abend gliedert sich letztendlich in zwei Teile – unterbrochen nur durch eine recht fragwürdige und deplatziert wirkende Rap-Einlage von Renato Schuch, der den Tonstudiobearbeiter gibt. Zunächst liest Nina Hoss Eribons Text zu dem dokumentarischen Film, wobei sie immer wieder diesen Vorgang unterbricht und sich in (pseudo-)intellektuelle Diskussionen mit Hans-Jochen Wagner begibt, um Text und Bilder zu analysieren und zu hinterfragen. Hier wird schon deutlich, dass dieser Text Nina Hoss nicht nur in ihrer Rolle als Schauspielerin, sondern auch persönlich berührt. Im zweiten Teil, der die letzte halbe Stunde der Inszenierung ausmacht, wird ihren persönlichen Erfahrungen Raum gelassen – Nina Hoss‘ eigener Vater kommt, wie Eribons Vater beziehungsweise Familie, aus der Arbeiterklasse. Sie zeichnet allerdings anders als Eribon einen fast heldenhaft wirkenden Weg ihres Vaters nach, der, als Kommunist zum Schulbesuch nach Ostberlin geschickt, Gewerkschafter wird und sich für Arbeitsrechte einsetzt. Er ist später Gründungsmitglied der Grünen, kämpft gegen Ausbeutung in Südafrika und der Türkei und ist schließlich mit Mitte 60 Schützer des Regenwaldes. Hoss untermalt dies mit persönlichen Bildern und Videos ihres Vaters. Sie bildet somit einen Gegenpart zu Eribons teils auch recht einseitiger, mit einem (fragwürdigen) Wahrheitsanspruch versehener Darstellung der Arbeiterklasse, die, in Teilen und insbesondere in „Gesellschaft als Urteil“, oft auch sehr überheblich und überlegen wirkt.
Insgesamt sicher ein spannender und lohnenswerter Abend, der den Zusehenden Unterdrückungsmechanismen und Klassenausbeutung eindrücklich vor Augen führt – bildlich und textlich untermalt und ohne viel Ausschmückung. Es handelt sich zweifelsohne um eine interessante sowie schlichte Umsetzung des Stoffs. Als Stream aber dennoch nicht unbedingt geeignet, da es schwer ist, das Gesehene in seiner Theatralität und nicht rein als Dokumentarfilm wahrzunehmen.