Foto: "Die Zehn Gebote" mit Peter Fasching, Jan Thümer, Anja Herden, Lukas Holzhausen, Jutta Schwarz, Nadine Quittner und Gábor Biedermann. © www.lupispuma.com / Volkstheater
Text:Jens Fischer, am 13. April 2020
Die 10 Gebote sind Konfirmanden- und Firmungsstoff, auswendig gelerntes Wissen, tot, aber nicht vergessen. Unterschwellig rumoren sie wie Botschaften zum Abgleich mit dem eigenen Handeln – als Erfordernisse gelingenden sozialen Miteinanders. In zehn jeweils knapp einstündigen „Dekalog“-Filmen untersuchte Krzysztof Kieślowski Ende der 1980er Jahre die Gültigkeit der Gottesgebote im alltäglichen Leben. Zu zerreißen drohende Wesen stehen in der Dramatisierung des Stoffes auf der Bühne der Wiener Volkstheaters. Es geht um Menschen, die in widersprüchliche Situationen geraten – getrieben von ihren Bedürfnissen und Begierden und den schemenhaft erinnerten zehn Handlungsmaximen. Das Gute, Wahre und damit Schöne scheint in dieser ethischen Hölle schwer zu definieren. Denn stets ist festzustellen, dass Güte in der Bosheit steckt und umgekehrt, wie es am Ende der zweieinhalbstündigen Inszenierung von Stephan Kimmig heißt, der die raffiniert konstruierten moralischen Versuchsanordnungen auf den jeweiligen dramatischen Höhepunkt konzentriert und zu symbolischen Situationen verdichtet – als verzweifeltes Ringen um gültige Werte in einer Welt, der religiöse oder ideologische Begründungszusammenhänge abhandengekommen sind.
Gott war schon immer eine Totgeburt, ist also chronisch abwesend, aber als Zehn-Gebote-Mahnung weilt noch ein Engel (Jutta Schwarz) in klassisch weißer Gewandung auf der Bühne, schaut gelangweilt aufs Geschehen vom verlassenen Olymp aus, einem aufgebockten LKW-Führerhäuschen, schlendert auch mal herum wie der namenlos stumme Mann in Kieślowskis Filmen. Greift wie dieser aber nie ein. Stellt in Wien allerdings die Fragen des künstlerischen Teams an „Mr. Kieślowski“, was Glück, was Liebe, was wichtig im Leben sei und ob es eine universelle Moral gebe. Der 1996 verstorbene Filmemacher kann nicht mehr antworten, hat aber schon in seinen Filmen keine eindeutigen Lösungen angeboten, nur die Konflikte unbarmherzig als existenzielle Wunden aufgerissen. Bei gewöhnlichen Bewohnern einer dieser schäbig grauen Plattenbau-Vorstädte Warschaus. Auf die Bühne übersetzt hat das Oliver Helf mit intransparent grau schimmernden Plastikplanen, die das Spielgeviert rahmen. Online zu erleben in einem Mitschnitt der Premiere aus dem Dezember 2017, aufgenommen von einer Kamera übers Parkett hinweg, die meist in der Totalen verharrt, manchmal mit ruckartigen Schwenks die Schauspieler sucht, sie auch mal wackelig heranzoomt, ohne dass das Mitziehen der Bildschärfe stets gut funktionieren würde. Die Bilder pixeln aus, eher diffus als gut verständlich ist die Tonaufnahme. Das Video hat bei Weitem nicht die handwerkliche Qualität der Aufführung. Funktioniert als dokumentarischer Mitschnitt aber sofort.
Huldigt das Ensemble auch trostlos dem Synthetikfaser-Textildesign der 1980er Jahre (Kostüme: Anja Rabes) und ist typisierend ins ansatzweise Groteske perückt worden, geht es in den emotional aufgeladenen Situationen beängstigend exzessiv auf. Die zwanglos und doch mit Hochspannung ineinander verwobenen Handlungsstränge haben den Duktus gerade frisch gefundener Interpretation des Textes. Roh, ungekünstelt intensiv wirkt das. Auch wenn alle Schauspieler die Hilflosigkeit ihrer Figuren immer mal wieder in expressiven Gesten ausstellen oder kurz choreographierten Tanzszenen ausagieren. Dort ist jeder ebenfalls für sich, bleibt mit seinen Bewegungen allein. Beispielhaft schonungslos etwa, wie das vierte Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ neu gesehen wird: Die Tochter (Seyneb Saleh) will ihren Vater (Lukas Holzhausen) nicht nur als Vater lieben und daher zum Eingeständnis zwingen, nicht ihr Erzeuger zu sein, so dass die von ihm durchaus erwiderte Zuneigung ausgelebt werden dürfte. Mutig rennt sie verbal und physisch gegen den Mann an, trommelt auf ihren sehnsuchtswimmernden Körper und schreit: „Fass mich an.“ Bald schmiegen sich beide wild taumelnd aneinander und verknäulen sich in Inzestängsten, Vorwürfen und Schamgefühlen.
Kaum weniger eindrücklich: wie eine aus Gefühllosigkeit promisk dahinlebende Frau einen jungen Stalker, der in sie verliebt ist, einlädt, um sich an seiner Erregung zu weiden – als Beweis, es gebe nur Lust, keine Liebe. Dass das Opfer sich im Film anschließend die Pulsadern aufschneidet, benötigt die famos verklemmte Raserei-Szene des Jungen auf der Bühne nicht. Überhaupt sticht sein Darsteller Peter Fasching heraus. Auch als traumatisierter Typ, der sich seiner selbst in einer kalt und empathiefrei erlebten Welt mit einem eiskalt sinnlosen Mord vergewissert – und in Furorangst verfällt. Mit dem Gebot „Du sollst nicht töten“ konfrontieren Kieślowski/Kimmig den individuellen mit dem staatlichen Mord, der Todesstrafe. Immer komplex irritierend ist das mit den Gut- und Böse-Kategorien ausgearbeitet. Auch die Frau, die zur Illustration des Gebots „Du sollst nicht stehlen“ ihr eigenes Kind entführt, ist keine Diebin, sondern wehrt sich nur dagegen, dass man ihr das Baby einst weggenommen hat.
Zupackend inszeniert Kimmig die jeweils heillose Überforderung der Figuren, zupackend konzentriert er philosophische Fragen in seine Szenencollage „Die Zehn Gebote“. So entsteht ein Theaterabend, der auch als semiprofessioneller Mitschnitt auf dem Fernsehschirm bestens funktioniert.