Foto: Live-Cam-Performance "Yung Faust" © Anne Fritsch
Text:Anne Fritsch, am 25. März 2020
Es ist kein normales Theater an diesem Dienstag-Abend. Aber es sind auch keine normalen Zeiten. Es ist Theater in Zeiten von Corona. Also: Theater ohne Begegnung, Theater auf Abstand. Es ist ein Experiment, was die Münchner Kammerspiele da machen, der Versuch, die räumliche Distanz zu überbrücken und trotz aller Schwierigkeiten ein Live-Erlebnis zu schaffen. Da ein Live-Stream aus dem Theater aufgrund des Kontaktverbotes nicht möglich ist, bleibt jede*r für sich – es ist eine Verabredung im virtuellen Raum.
Eine Live-Cam-Performance nennen die Kammerspiele die Übertragung von Leonie Böhms „Yung Faust“ aus dem theatralen Homeoffice. Alle sind daheim, das Ensemble und sein Publikum. Julia Riedler, Annette Paulmann, Benjamin Radjaipour und der Musiker Johannes Rieder filmen sich selbst (jeder für sich allein). Sie sehen sich und einander auf einem Split-Screen. Er hat ein bisschen was von Voyeurismus, dieser Einblick in die Privatsphäre, vor allem aber hat er etwas sehr Tröstliches und Verbindendes.
Leonie Böhm, deren Spezialität es ist, Klassiker auf ihren Kern zu reduzieren, hat Goethes „Faust“ in eine Rutschpartie der Gefühle verwandelt. Ein bisschen zu fresh, ein bisschen zu angestrengt jung und hemmungslos. Bis auf die verknappte Textfassung nun hat das Kamera-Event nicht wirklich viel mit dem Original zu tun: Wo dieses auf körperliche Nähe setzt, bleibt heute nur der Sicherheitsabstand. Vielleicht eignet sich diese Inszenierung aber gerade deswegen ausgezeichnet für dieses Experiment: Weil das Fehlen von Nähe und Berührung hier in jedem Moment mitschwingt. Auch die reale Sehnsucht der Spieler*innen nach dem gemeinsamen Spiel, der Normalität. Und so bringt diese kurze Internet-Theaterstunde irgendwie das landes-, vielleicht sogar weltweite Gefühl des Augenblicks auf den Punkt. Dieses „Entsetzen am Morgen, den Tag zu sehen, der mir keinen Wunsch erfüllt“. Es fließen einige Tränen an diesem Abend, und nicht jede wirkt gespielt. Die reale Situation spielt immer wieder herein, nicht nur, wenn die Technik für kurze Momente Schwierigkeiten macht.
Das Publikum blickt nicht nur in fremde Wohnungen, es erlebt eine kollektive Sehnsucht nach Gesellschaft. Und darf sich schließlich selbst einklicken in den theatralen Chatroom, für einige Zeit Teil des Ganzen werden, „erkennen, was die Welt im Innersten zusammen hält“. Dieses Experiment lebt von den Schauspieler-Persönlichkeiten, von ihrem Charme, ihrem Witz, ihrer Ehrlichkeit und Spontaneität. „Ich bin euch nah, und bin ich noch so fern“, sagt Annette Paulmann in einem dieser Momente, in denen der Goethe-Text auf einmal wie ein Kommentar zu genau diesen Tagen wird.
Nein, es ist kein normales Theater. Aber es ist das, was Theater in diesen merkwürdigen Zeiten vielleicht am nächsten kommt. Alle sind zwar nicht an einem Ort, aber bei einer Sache. Es gibt keinen Pausenknopf wie bei einem Stream oder einer Serie. Paulmann, Riedler, Radjaipour und Rieder statten ihrem Publikum einen Besuch im Wohnzimmer ab. Theater 2.0? Nicht für immer, hoffentlich. Aber für diese Zwischenzeit ein virtueller Trost, eine Ersatzdroge.
Vielen Dank dafür. Und: Bitte mehr davon!