Foto: Die beiden tragenden Frauenfiguren: Anna Sohn als Elvire und Sarah Wilken als Fenella © Oper Dortmund
Text:Joachim Lange, am 14. März 2020
Eine lange und intensive Arbeit brauche einen ordentlichen Abschluss, fand der Dortmunder Intendant Heribert Germeshausen und setzte bei den um die Virusbekämpfung besorgten Obrigkeiten wenigstens eine Vorstellung am eigentlich geplanten Premierentag von Aubers „Die Stumme von Portici“ durch. Immerhin hat er dafür Regie-Altmeister Peter Konwitschny nach Dortmund geholt. Der soll nach der Zwangspause, deren Ende noch keiner kennt, an seinem Haus nach und nach den kompletten Nibelungen-Ring inszenieren. Jetzt war nur eine kleine Gruppe von Journalisten zu einer Art Abschiedsvorstellung zusammengekommen. Zu einer Geisterpremiere als neuartigem Event. Ganz so wie die Fußballspiele vor leeren Rängen. So schnell kann man zusammenrücken! Ob das von manchen Häusern versuchte Ausweichen ins Netz zur Notfallversorgung mit Live-Kultur werden kann? Wir werden sehen.
Daniel-François-Esprit Aubers (1782-1871) „Die Stumme von Portici (La muette de Portici)“ schafft es heute nur selten auf die Bühne. Von der Renaissance der Grand Opéra hat Auber jedenfalls nicht so profitiert wie entsprechenden Gattungsbeispiele von Berlioz, Meyerbeer oder Halevy. Dabei hat die „Stumme“ ein Alleinstellungsmerkmal: Zwei Jahre nach ihrer Uraufführung 1828 erwarb sie sich den Ruf, in Brüssel jenen Aufstand ausgelöst zu haben, der letztlich zur Gründung des selbständigen Belgiens führte. Hier sind Zeit- und Rezeptionsgeschichte offensichtlich so wirkungsvoll zusammengestoßen, dass es wirklich mal gefunkt hat und eine Oper im doppelten Wortsinn einen durchschlagenden Erfolg hatte. Im konkreten Fall bestünde die Gefahr schon deshalb nicht, weil außer ein paar Journalisten niemand im Saal war. Abgesehen davon, dass das Dortmund von heute im Unterschied zum Brüssel von damals nicht „besetzt“ ist.
Peter Konwitschny und sein langjähriger Ausstatter Helmut Brade widmen sich der frühen Grand opéra mit jener Mischung aus altmeisterlicher Souveränität und Retrocharme, die schon länger ein Markenzeichen von Konwitschny-Inszenierungen ist. Der folgt längst seinem eigenen Stern. Als eigensinniger Anwalt der Stücke, die ihn interessieren, und des Publikums, das er erreichen will. Und wenn da ein Vesuv-Ausbruch in der Vorlage steht, dann gibt es eben einen feuerspeienden Vulkan als Prospekt und Flammen aus der Versenkung. Zu diesem handgemachten Theaterzauber springen zum Finale die beiden wichtigen Frauen im Stück, Fenella und Elvire, in den Krater. Der Aufstand der neapolitanischen Fischer gegen die spanischen Besatzer ist da schon niedergeschlagen, und der Anführer von seinen eigenen Leuten umgebracht worden. Ein Untergang im Götterdämmerungsformat, das Konwitschny gelegentlich auch für die reale Welt heraufziehen sieht.
Einen Teil des französischen Librettos von Augustin Eugène Scribe und Germain Delavigne hat Konwitschnys langjährige Mitstreiterin Bettina Bartz ins Deutsche übersetzt. Da Konwitschny ein erklärter Anhänger einer Aufführungspraxis in deutscher Sprache ist, wird Zweisprachigkeit bei ihm zu einem konstituierenden Element. So ist wie zu Zeiten des Preußenkönigs Friedrichs II. französisches Parlieren den Herrschenden vorbehalten und das Deutsche dem fischenden Fußvolk. Das macht (anstelle des Gegensatzes von Spanisch und Italienisch in der Geschichte) erkennbar Sinn. Auch wenn die Übersetzung mit Vokabeln wie „Okay“ oder „Kollegen“ mitunter unfreiwillig komisch wirkt.
Konwitschny hatte in seinen Inszenierungen immer ein besonderes Herz für die von den Männern drangsalierten Frauen. So setzt er dem Geschehen auch eine These voran, die erklärt, warum Fenella stumm ist. Es muss das Trauma eines Missbrauchs sein. In einer Pantomime zur Ouvertüre vor dem Vorhang sehen wir, wie sie als Schulkind einem fremden Mann folgt… Dass dann der Sohn des Vizekönigs Alphonso ein Verhältnis mit dem einheimischen stummen Mädchen hatte, und der Vizekönig das Mädchen einsperren lässt, wiederholt diesen Missbrauch und hebt ihn zugleich auf eine politische Ebene. Für ihren Bruder Masaniello wird Rache für verletzte Familienehre zum Antrieb für sein Handeln. Er zettelt einen Aufstand der einheimischen Fischer gegen die fremden adligen Besatzer an, der ganz opernlike aus dem Ruder läuft. „Schlagt die Besatzer tot“, singen, meinen und praktizieren sie. Dass sich Fenella und Elvire, die Braut ihres aristokratischen Verführers, näher kommen, dass sich Masaniellos Freund und Mitstreiter Pietro zum Fundamentalisten mausert, dessen Blutrausch nicht zu bremsen ist und er Masaniello vergiftet, als der Mäßigung anmahnt, gehört zu einem Operncocktail, zu dem Auber eine geschmeidig umspielende, auflodernde Musik mixt, die den Protagonisten schöne Vorlagen für vokales Glänzen liefert. Mirko Roschkowski ist mit seinem einschmeichelnd lyrischen Timbre ein Masaniello, der sich vom mühelos treusorgenden Bruder mit Vehemenz und einiger Anstrengung zum Stichwortgeber und Anführer aufzuschwingen vermag. Anna Sohn glänzt als Elvire im Weiß der Braut und mit ihren Koloraturen. Sie macht das Mitfühlen mit dem von Soldaten gejagten Mädchen glaubhaft. Mandla Mndebele hebt sich mit einer gewissen vokalen Härte als Pietro markant von seinem Freund ab. Und Sunnyboy Dladla schafft es als Alphonse, sein schlechtes Gewissen, das er gegenüber Fenella empfindet, glaubhaft zu machen. Montonori Kobayashi muss zum Schwelgerischen und manchmal auch Idyllischen der Musik vor allem in den ausführlichen Chorpassagen einiges an Koordinierung leisten.
Konwitschny erzählt die Geschichte mit der Distanz eines bunten Bilderbogens. Der Einsatz von Hubpodien erlaubt den schnellen Wechsel vom Inneren des Balkonzimmers im Palast zum Platz vor der Kirche. Der Markt vorm Vesuvpanorama oder die Fischerhütte haben etwas Malerisches. Ikonen des Aufruhrs von Jeanne d’Arc und Thomas Müntzer, über Lenin und Luxemburg bis Che Guevara werden als Schießbudenfiguren von der treffsicheren Reaktion abgeschossen. Brutalität selbst bleibt Andeutung und überlässt den Rest dem Auge des Betrachters. Zu einem echten Reißer, der es aus dem Erfolg in der Entstehungszeit zu einem Stammplatz im Repertoire gebracht hätte, ist „Die Stumme von Portici“ nicht gemacht. Und das ist – auch nach dieser Konwitschny-Inszenierung – wohl kein Fehlurteil der Nachwelt.