Im darauf folgenden Duett „Skin“ führt Stephan Thoss das Adam- und Eva-Motiv in die Zukunft fort. Vor der Videoprojektion eines tropischen Waldes tanzen Věra Kvarčáková und Vítek Kořínek in futuristisch glänzenden, hellgrünen Overalls eine Art Loop der Schöpfungsgeschichte, der in dem von Wiederholungen geprägten Musikstück „The Low Places“ von Jon Hopkins seine Entsprechung findet. Das Zusammenspiel von Tanz, Musik und Video ist harmonisch, die spielerische Leichtigkeit der Choreographie lässt freundliche Zukunftsassoziationen zu: ein gelungene, wenn auch knappe Arbeit.
Wahrlich futuristisch mutet das Konzept des gebürtigen Albaners und vormaligen Tänzers Erion Kruja an, der erst seit 2019 hauptberuflich als Choreograph arbeitet. Für „Human“ hat er nicht nur Choreographie und Ausstattung, sondern auch die Musik und das Licht verantwortet und liefert damit zweifellos die herausragendste Arbeit dieses Abends. In silbrig glänzenden Ganzkörperanzügen im Cyborg-Look lässt er dreizehn Tänzer verschiedenste kollektive Formationen bilden, die anhand eines vielfältigen Bewegungsvokabulars dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ebenso nachspüren wie dem von Perfektion und Abweichung. Die Gestik der Tänzer, ihr expressiver Ausdruck als Gruppe, der teilweise von einem archaischem Brüllen verstärkt wird, erinnert immer wieder an einen rauschhaften Rave mit soghafter Wirkung. Welches Potenzial, welche Gefahren birgt das Handeln einer zentral gesteuerten Gruppe? All diese Fragen vermag „Human“ durch seine komplexe choreographische Gestaltung zu stellen, unterstützt durch ein außergewöhnlich intensives Lichtkonzept und die immer wieder mit gesprochenem Text versetzte Musik von Kruja, den es als Choreographen auf internationalem Parkett unbedingt im Auge zu behalten gilt.
In der Pause werden die Zuschauerinnen und Zuschauer in ein nächstes Paradies geladen: In der Optik und Motorik von Robotern bedienen die Tänzer Alexandra Chloe Samion und Joris Bergmans im Foyer (wo übrigens vorab eine ungewöhnliche Kurzeinführung auf Video stattfand) statisch eine „Apfelbar“, schneiden mechanisch das Obst der Verführung in Stücke (Idee: Stephan Thoss), bevor es im Schauspielhaus mit der vierten Choreographie weitergeht.
Taulant Shehu, der neben seinem choreographischen Schaffen noch als Tänzer in Wiesbaden engagiert ist und wie Erion Kruja gebürtig aus Albanien stammt, verfolgt mit „Silence“ einen völlig anderen Weg als seine Kollegen: Er spürt jenen menschlichen Eigenschaften und sozialen Bedürfnissen nach, die uns (bislang) von allen künstlich geschaffenen Wesen unterscheiden. Allein die in natürlichen Farben gehaltenen Kostüme (Taulant Shehu) der Tänzer suggerieren Ursprünglichkeit. Was macht den Menschen, was macht Menschlichkeit aus? Die Choreographie greift immer wieder ritualhafte Gesten auf, wenn beispielsweise die Tänzer ihre Arme sehnend gen Himmel strecken. Darüber hinaus ist Platz für kleine, individuelle Soloparts und Pas de Deus voller Zärtlichkeit. Eine liebevolle tänzerische Recherche, die inhaltlich und ästhetisch einen Kontrapunkt zu den übrigen Arbeiten setzt.
Frank Fannar Pedersen, der in Basel neben seiner choreographischen Laufbahn auch nach wie vor als Tänzer engagiert ist, hat mit „verður“ bereits seine zweite Choreographie für das Mannheimer Nationaltheater erarbeitet. Sein Konzept ist gleichermaßen simpel wie genial: Für die Erschaffung neuen Lebens hat er das Bild einer durchsichtigen Kugel gewählt, die für ein neu geschaffenes Wesen (mit großer Empfindsamkeit getanzt von Lorenzo Angelini) gleichermaßen Schutzraum und Gefängnis ist und darauf verweist, wie viel Intimität der Mensch in den digitalen Medien preisgibt. Was als vorsichtige tänzerische Begegnung und Erkundung des Gegenübers beginnt, steigert sich in eine Art laboratorische Hetze: Immer stärker treiben drei in Forscher-Anzüge gekleidete Tänzer (Joris Bergmanns, Alexandra Chloe Samion und Andrew Wright) den Ball und das Individuum darin zur Bewegung an – bis hin zum Kollaps. Auf ungewöhnliche und berückende Weise begegnet hier eine Choreographie ethisch-moralischen Fragen einer Zukunft, in der die Menschen selbst zu Schöpfern werden.
Zum großen Finale setzt schließlich Stephan Thoss mit „Us“ an, seinem dritten Stück des Abends zu Laurents Petitgands rhythmisch forscher Komposition „Ronde Latinale“. Die Choreographie, die das Gemeinschaftsgefühl feiert und das Ensemble des Nationaltheaters noch einmal auf der Bühne versammelt, zeichnet sich durch eine nahezu galoppierende und mitreißende Dynamik aus. Zwischendurch mischen sich künstliche, roboterartige Elemente mit dem Vokabular modernen Balletts, darüber hinaus scheint sich „Us“ nur abstrakt am Grundthema des Abends zu orientieren.
Was bleibt, ist ein überaus komplexer Tanzabend, der sich auf beachtliche Weise gesellschaftlich relevanten Fragen widmet – und ein beeindruckend starkes Ensemble, das sich offenbar mühelos auf vier sehr unterschiedliche choreographische Handschriften einzustellen vermochte.