Wenig später haben die acht Kolleginnen und Kollegen – Kassiererin Claudie fungiert, um all die Stränge und Motive zusammenzuhalten, zwischendurch als Erzählerin – nicht nur einen Supermarkt, einen Schlachthof, ein Zementwerk und eine rotlichtige Bar an der Backe, sondern müssen des Nachts unter der Führung der scheuen Estelle auch noch ein Theaterstück proben. Sowohl in der Geschäftsführung wie in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem palliativ im Krankenhaus liegenden Chef sind alle komplett überfordert. Shakespeares „Sommernachtstraum“ lässt dabei ebenso grüßen wie Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“. Denn Estelle schickt verzweifelt ihren brutalen kleinen Bruder, der die Truppe zum chorischen Bekenntnis zum Theater zwingt: „Ich liebe das Theater. Theater ist wichtiger als das Leben.“ Dieser Bruder ist in Wirklichkeit sie selbst und bald wird er zur Gewalt ausübenden Instanz gegenüber aufmüpfigen Arbeitern des Schlachthofs und andernorts. Am Ende ist das Oktett alle Firmen los und Estelles Mann tot; die weitere Geschichte dieser Frau zwischen armem Hascherl und empathischer Putzfrau, gnadenloser Künstlerin und patriarchalischer Theaterprinzipalin, falscher Nonne und am Ende auch dankbarer Geliebter eines Killers bleibt offen.
„Mein Kühlraum“ ist genau betrachtet keineswegs eine überfrachtete, entgleiste Kitschkomödie, sondern eine bewusst ambivalente Spielvorlage; Pommerats Themen und Schreiben sind sehr französisch geprägt, als Autor, der seinen Schauspielern Rollen zuschreibt und seine Texte stets auf der Bühne erprobt und umschreibt, ist er aber auch ein Dramatiker für die Weltbühne. In Krefeld sprang der Pommerat-Experte und (bis 2016) langjährige Linzer Schauspieldirektor Gerhard Willert für den erkrankten Hüseyin Michael Cirpici ein. Auf der weiten, freien Bühne von Julia Scholz schafft er mit dem durchweg überzeugenden neunköpfigen Ensemble – samt Julia Klomfaß als Live-Gitarristin am Rand des Bühnenportals – eine einfache, klar strukturierte Rahmung für das vielfältige Stück. Auf einer kleinen Rampe in die ersten Reihen des Parketts hinein berichtet Eva Spott als Claudie von Estelles Geschichte und taucht dann selbst in die Welt des Supermarkts ein. Das Ambiente der Acht wird etwa durch die mobile Umkleide allenfalls angedeutet. Und doch bleiben die Probleme nicht abstrakt. Das Umkippen von Begeisterung über das unverhoffte Erbe in die unauflösbaren Konflikte zwischen Kapitalerhaltung und sozial verantwortlichem Handeln Dritter, aber auch sich selbst gegenüber wird in dichten Ensembleszenen sehr konkret. Die gelben Westen als Markierung für die Supermarktkleidung (Kostüme: Sigi Colpe) sind auch ein Hinweis auf die spezifisch französische Note des Stücks und des Sozialverhaltens der Figuren.
Paul Steinbach zeigt als rücksichtsloser Chef wie als dünnhäutiger Sterbender eine besonders vielschichtige Figur. Raafat Daboul spielt voller Würde und Komik den Lagerverwalter Chi, dessen eigentümliche Aussprache auf die Übersetzung Estelles angewiesen ist. Carolin Schupa schließlich beeindruckt nicht nur in der Verwandlung von Estelle in ihren vorgeblichen kleinen Bruder, sondern durch ihr unprätentiöses Spiel in der Rolle einer ganz normalen und dabei ganz besonderen Frau.
Das gute Timing bei oft sehr kurzen Szenen oder Bildern hilft, das vielschichtige Stück zu gliedern und es zwischen konkreter Geschichte und symbolhafter Zeichenhaftigkeit auszutarieren. Die Krefelder Inszenierung macht Lust auf mehr Kühlräume; ein Stück, in dem die Theaterkunstanstrengung und die kapitalistische Gesellschaft in einer spannungsreichen Beziehung stecken: Das Theater soll da die Wirtschaft retten – genau daran ist Bolcqs zweifelhafte Schenkung geknüpft. Am Ende bleiben nur verlorene Menschen, die sich in der Niederlage aber als Gruppe zusammengerauft haben – ohne die außerordentliche Heldin.