Foto: Jakub Józef Orliński als Tolomeo am Badischen Staatstheater Karlsruhe © Falk von Traubenberg
Text:Georg Rudiger, am 16. Februar 2020
Blicke ins Leere, Gesten der Verzweiflung. Der Titelheld unternimmt zwei Selbstmordversuche – und auch den anderen Figuren geht es auf der Bühne des Badischen Staatstheaters Karlsruhe nicht besser. Die Insel, auf der die Gestrandeten die Liebe suchen, ist ein unerfüllter Sehnsuchtsort. Falsche Identitäten verkomplizieren die Gefühlslage. Georg Friedrich Händels Oper „Tolomeo, Re d‘Egitto“, die die 43. Internationalen Händelfestspiele Karlsruhe (noch bis 26. Februar) eröffnet und zum ersten Mal überhaupt in der Stadt zu sehen ist, war das letzte Werk, das der Komponist im Jahr 1728 für die Royal Academy of Music schrieb, bevor sich das Opernunternehmen wegen Zahlungsunfähigkeit auflöste. Das lag auch an den teuren Gesangsstars, die sich die Akademie mit dem Kastraten Senesino und den Primadonnen Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni leistete, die in der Premiere am 30. April 1728 im Londoner King‘s Theatre am Haymarket als Tolomeo, Seleuce und Elisa gemeinsam auf der Bühne standen. Händel hatte für das Trio über zwanzig Arien komponiert, die spektakuläre Koloraturen erfordern, aber auch viele ruhige, ganz zerbrechliche Momente enthalten. Die ohnehin schon dünne Handlung zerfällt in Augenblicke der Trauer oder der Wut, der Sehnsucht oder der Eifersucht.
Das Drama findet zu einem großen Teil im Orchestergraben statt, wo die Deutschen Händel-Solisten unter der Leitung von Federico Maria Sardelli schon in der Ouvertüre die Partitur aufrauen und mit knackigem Bogenstrich und schmetternden Naturhörnern eine dramatische Grundlage vorstellen, von der aus dieser „Tolomeo“ immer wieder neu emotionalisiert wird. Der Titelheld wurde von seiner Mutter Kleopatra nach Zypern vertrieben – die Herrschaft Ägyptens hat sie dem Erstgeborenen genommen und an seinen jüngeren Bruder Alessandro übertragen. Jakub Józef Orlinski singt diesen Tolomeo, der sich auf der Insel als Hirte Osmin verkleidet, mit beseelten Melodiephrasen, wuchtigen Basstönen und einer leuchtenden, klaren Höhe. Der junge polnische Countertenor macht aus dem entmachteten Herrscher einen tief empfindenden, über ein reiches Seelenleben verfügenden Menschen, der zwischen Traum und Wirklichkeit mäandert und den Verlust seiner Geliebten Seleuce betrauert. Diese tritt als Hirtin Delia ebenfalls unter einem falschen Namen auf – erst am Ende des zweiten Aktes erkennen sich die beiden wieder. Louise Kemény singt sie mit rundem, warmem Sopran und vielen Nuancierungen in Farbe und Dynamik. Auch sie wandelt zwischen Wach-Sein und Schlaf.
Regisseur Benjamin Lazar, der 2014 in Karlsruhe die in der gleichen Saison wie „Tolomeo“ komponierte Händeloper „Riccardo Primo“ mit Kerzenlicht und barocken Gesten inszenierte, verstärkt diese somnambule Stimmung. Häufig sind, wenn jemand singt, auch die anderen mit auf der Bühne, liegen verkrümmt auf dem Boden oder schauen aus dem Fenster. Eine Hotellobby könnte das sein, die Adeline Caron gebaut hat, oder auch eine Nervenklinik. Im ersten Akt sind die Fenster noch blind – man ist ganz für sich in diesem abgeschlossenen, kühlen Raum, in dem die Bonsaibäume gefroren sind. Im zweiten wird der Blick frei auf das Meer, dessen Brandung direkt vor dem Fenster rauscht (Video: Yann Chapotel). Dieses Gefühl der Weite wird mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen variiert, was gut zu den Stimmungen von Händels Musik passt. Die Morgendämmerung schafft Hoffnung, ein Sonnenuntergang verklärt die Erinnerung. Das trägt die Figuren nicht immer, aber die Inszenierung lässt mit ihrer Offenheit, Leere und den zeitlosen Kostümen von Alain Blanchot auch Raum für die Musik entstehen, den das vorzügliche Solistenquintett füllt. Seleuces Gegenspielerin Elisa, die Tolomeo ebenfalls liebt, ist in der Interpretation Eléonore Pancrazis kühler, spektakulärer, aber auch eindimensionaler. Ihr leicht kehliger Stimmklang ist direkt und durchschlagend. Ihre gedrechselten Koloraturen werden zu faszinierenden Gefühlsausbrüchen. Auch Elisas Bruder, der in Seleuce verliebte Araspe, hat mit Morgan Pearse großes dramatisches Potential. Ganz sanft und lyrisch dagegen der chinesische Countertenor Meili Li, der als bekehrter Alessandro die Dinge zum Guten lenkt. Die anspruchsvollen Orchestervorspiele der Arien werden von den Deutschen Händel-Solisten auf den Punkt musiziert. Selbst in den höllisch schnellen Tempi, die Federico Maria Sardelli für die Wutarien wählt, werden die Streicher nicht aus der Kurve getragen.
Zur hochdramatischen Arie „Son qual rocca“, für die Jakub Józef Orlinksi seine Stimme härtet, bricht das digitale Meer über die Szenerie herein, bevor man für das Ende der Oper in einer Unterwasserwelt landet, zu der auch ein paar Quallen vom Schnürboden gelassen werden. Das wirkt dann doch etwas seltsam, zumal sich die Handlung weiter zuspitzt. Auch mit dem plötzlichen Happy End kann die Regie wenig anfangen. Dass Louise Kemény als Seleuce mit dem Lift aus der Unterbühne auftaucht, wirkt eher unfreiwillig komisch, zumal Lazar die bedeutungsschwere Bewegungschoreographie bis zum Ende beibehält. Musikalisch bleibt der umjubelte Abend aber dank Federico Maria Sardelli bis zum letzten Ton spannend – die Händelfestspiele haben gleich zu Beginn ihren ersten Höhepunkt.