Danach geht unmittelbar der Vorhang auf: Judith ist gerade mit dem Auto in der Tiefgarage Blaubarts angekommen: „Wir sind am Ziel!“, singt er in der ungarischen Originalsprache. Doch statt mit der Blondine im Leoparden-Pelzmantel über dem kleinen Schwarzen (Kostüme: Sussie Juhlin-Wallén) die Treppe hinauf in die Wohnung gehen zu können, muss sich der Mann der Frau beugen, die erst einmal auf der Inspektion der Kellerräume besteht. Dabei gibt sie vor, mehr Licht ins Dunkel von Blaubarts Festung zu lassen. Zugleich bricht sie damit in sein düsteres Inneres ein, in das er nichts von außen dringen lassen will. Nacheinander öffnet Judith die sieben Türen seiner „Ich-Festung“ und sieben Räume schieben sich von rechts nach links als halber Bühnenausschnitt ins Zentrum: ein nicht mehr benutzter Operationssaal (Folterkammer), Gewehre hinter Gitter (Waffenkammer), der Tresorraum (Schatzkammer), ein unterirdisches Gewächshaus (der geheime Garten), der besagte Flugsimulator (die weiten Lande), eine alte Gemeinschaftsdusche (Tränensee). Alle Räume (Bühne: Alex Eales) starren vor Dreck, die Farbe an den Wänden ist abgeplatzt, Rost breitet sich aus. Schließlich erreicht Judith hinter der siebten Tür das morbide „Allerheiligste“. Auf den ersten Blick ist das endlich ein schöner Raum im Stile des Art déco mit großen stilisierten Kreuzen an der Wand, wie sie als kleiner Anhänger auf den Fotos seiner drei entführten Frauen der Grund waren, dass Blaubart ausgerechnet sie als Opfer erkor. Auf den zweiten Blick ist auch das eine Gruselkammer, zumal man drei Frauen sieht, von denen zwei gefesselt sind. Damit Blaubart diesen Raum preisgibt, muss er schon mit Waffengewalt dazu gezwungen werden: Bei der letzten Umarmung entwendet Judith ihm die Pistole, von der sie am Ende auch Gebrauch macht, nicht ohne sich zu den letzten, leise verdämmernden Akkorden langsam die blonde Perücke von den schwarzen Haaren zu ziehen, physisch wie psychisch ungemein erschöpft.
So konkret und gekonnt Katie Mitchell eiskalte Ermittlungsarbeit inszeniert, so mächtig und dunkel glühend, manchmal aufbrechend wie Lava, bleibt die Musik, vom Bayerischen Staatsorchester unter Oksana Lyniv mit einer Intensität und Schönheit gespielt, die unter die Haut geht. In Spiel und Singen von Nina Stemme und ihrem schwedischen Landsmann John Lundgren bleibt ebenfalls viel erhalten vom emotionalen Krimi zwischen Mann und Frau, bei dem man nicht weiß, wie sehr Judith als eigentlich rational denkende und immer wieder Spuren und Beweismaterial sichernde Polizistin sich in ihren widerstrebenden Gefühlen zu diesem geheimnisvollen Mann nicht auch zunehmend verliert. Jedenfalls zeigt Nina Stemme mit lodernd hochdramatischem Sopran eine große, vielleicht nur halb vorgetäuschte Anteilnahme, aber auch die brennende Neugier Judiths, die ihr in der Oper zum Verhängnis wird. Jedenfalls ist sie keine junge, unerfahrene Frau mehr, die gerade den Verlobten hat sitzen lassen (wie es das Libretto erzählt). Andererseits ist das Verführungspotential eines differenzierten Heldenbaritons wie dem von Lundgren samt dessen viriler Erscheinung ja nicht gerade gering.
Dass der mutige Spagat gelingt zwischen der neu und heutig gefassten Geschichte, die Judith nicht mehr als Opfer zeigt, und der alten suggestiven Partitur, samt ebenso symbolistischem wie konkreten Text, ist allen Beteiligten zu danken, nicht zuletzt aber der Kraft von Bartóks Musik. Sie weist von der 1911 entstandenen Oper bis zum späten, ein Leben zusammenfassenden „Konzert für Orchester“ aus dem Jahr 1943 eine große Kontinuität auf, auch wenn der zeitgeschichtlich und autobiographisch gefärbte Rückblick des 62-Jährigen, der mitten im zweiten Weltkrieg in die USA emigrieren musste, stilistisch aufgebrochener ist als die Oper. So kennzeichnet ein vulgär klingendes Zitat aus Hitlers Lieblingsoperette, Léhars „Die lustige Witwe“ („Dann geh‘ ich ins Maxim“), bitter ironisch nazistischen Terror, während das Aufscheinen einer Melodie aus einer ungarischen Operette den Untergang der alten Welt erzählt. Wie perfide, dass gerade in diesem musikalischen Spannungsfeld Blaubart einer ohnmächtigen Frau die Nägel rot lackiert, sie trocken bläst und dann die Hände in Zellophan einwickelt.
Die Aufführung von „Judith“ am Freitag, 7. Februar (18.30 Uhr) wird kostenlos live auf STAATSOPER.TV übertragen und ist vom 9. Februar (12 Uhr) bis 10. März 2020 (11.59 Uhr) auf der Seite abrufbar.