Der Schauspieler Vincent zur Linden ist als Julien kein Charmeur, kein aalglatter Verführer. Im Gegenteil: Seine gleichbleibend ausdruckslose Miene, seine schmächtige, unscheinbare Gestalt prädestinieren ihn zur Projektionsfigur in dieser zweiteiligen Experimentieranordnung. Er verkörpert die Wünsche wie auch die Ängste seiner Umgebung. Für die einen ist er Messias, für die anderen eine Bedrohung. Der Bürgermeister Monsieur de Renal fürchtet sich vor dem Einfluss der Liberalen und seinem Konkurrenten ums Amt. Dem Marquis, in dessen Dienste Julien in Paris tritt, ist der unaufhaltsame Aufstieg des Bürgertums und damit der Mediokrität durchaus bewusst. Für die Frauen, Louise de Renal wie Mathilde de la Mole, ist mit Julien die Hoffnung auf ein Leben jenseits ihres Rollenkorsetts verbunden. Die Anlage der Hauptfigur, die diese eher zur beobachtenden als zur handelnden Instanz macht, verfolgt Schlockers intelligente, analytisch durchdachte und subtil instrumentierte Inszenierung sehr konsequent: bis hin zur Auswahl der – im übrigen herrlichen – Kostüme (Caroline Rössle Harper). Das Ehepaar de Renal ist im Muster der Tapete gekleidet, und auch ihr Hauslehrer adaptiert sich ans Dekor; allerdings trägt er dabei kurze Hosen, was ihn nicht eben zum Womanizer qualifiziert. Der Pariser Hochadel ist in rauschhaft üppigem Weiß ausstaffiert, eine drohnenhafte Decadence in Reinkultur, während der Privatsekretär des Marquis in asketischem Schwarz den größtmöglichen Kontrast zum Pomp à la Versailles bildet und damit eine kaum zu überbietende Provokation.
Lukas Bärfuss’ antipsychologische Lesart des französischen Realisten stellt diesen in eine Reihe mit Soziologen wie Didier Eribon, der nicht von ungefähr im Programmheft auftaucht. Dass Nora Schlocker und ihr Team ihm hier bis ins letzte ausgeklügelte Detail folgen, macht diese bemerkenswert heutige Inszenierung zum Ereignis.