Vincent zur Linden in der Titelrolle

Luxuriöses Gefängnis

Lukas Bärfuss: Julien – Rot und Schwarz

Theater:Theater Basel, Premiere:16.01.2020 (UA)Autor(in) der Vorlage:StendhalRegie:Nora Schlocker

Wer ist Julien Sorel? Am Theater Basel lässt sich diese Frage auch nach dreieinhalb Stunden nicht eindeutig beantworten. Julien Sorel ist, klar, der Protagonist von Stendhals Roman „Le Rouge et le Noir“, „Rot und Schwarz“. Er gilt als skrupelloser Aufsteiger, der die Liebe seines Lebens eiskalt verlässt, um in Paris weiter Karriere zu machen und kurz vor dem Ziel, die beste Partie der Gesellschaft zu machen, über einen Brief der enttäuschten Geliebten stürzt. Der Schweizer Dramatiker und amtierende Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss hat im Auftrag des Basler Theaters eine „Überschreibung“ des Romans vorgenommen, die man lieber Adaption nennen würde, da Bärfuss auf jede vordergründige Aktualisierung des Stoffs verzichtet.

Dieser Situierung im historischen Kontext folgt auch die Uraufführungsinszenierung von Nora Schlocker im Schauspielhaus. Ihre Bühnenbildnerin Jessica Rockstroh hat auf die Drehbühne ein Salonspiegelkabinett mit blumigen, pudrigen Rokokotapeten gesetzt. Es kreist und kreist und kreist, lässt hier eine Türöffnung frei, macht dort einen Durchgang möglich: Doch ein Entrinnen aus diesem Labyrinth ist nicht möglich. Es ist ein luxurierendes Gefängnis für alle Figuren – und damit ein geniales Setting für die Situation, die hier verhandelt wird: Ein – zumindest mit einem phänomenalen Gedächtnis – begabter junger Mann verlässt seinen Stand, um sich bei Höhergestellten einzunisten. Seine Unkenntnis der sozialen Codes kompensiert er mit psychischer Überlegenheit: Allein dank eines unbändigen Willens verführt er die Dame des Hauses und bringt sie – da sie ihn liebt an den Rand des Zusammenbruchs ihrer Existenz.

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Der Schauspieler Vincent zur Linden ist als Julien kein Charmeur, kein aalglatter Verführer. Im Gegenteil: Seine gleichbleibend ausdruckslose Miene, seine schmächtige, unscheinbare Gestalt prädestinieren ihn zur Projektionsfigur in dieser zweiteiligen Experimentieranordnung. Er verkörpert die Wünsche wie auch die Ängste seiner Umgebung. Für die einen ist er Messias, für die anderen eine Bedrohung. Der Bürgermeister Monsieur de Renal fürchtet sich vor dem Einfluss der Liberalen und seinem Konkurrenten ums Amt. Dem Marquis, in dessen Dienste Julien in Paris tritt, ist der unaufhaltsame Aufstieg des Bürgertums und damit der Mediokrität durchaus bewusst. Für die Frauen, Louise de Renal wie Mathilde de la Mole, ist mit Julien die Hoffnung auf ein Leben jenseits ihres Rollenkorsetts verbunden. Die Anlage der Hauptfigur, die diese eher zur beobachtenden als zur handelnden Instanz macht, verfolgt Schlockers intelligente, analytisch durchdachte und subtil instrumentierte Inszenierung sehr konsequent: bis hin zur Auswahl der – im übrigen herrlichen – Kostüme (Caroline Rössle Harper). Das Ehepaar de Renal ist im Muster der Tapete gekleidet, und auch ihr Hauslehrer adaptiert sich ans Dekor; allerdings trägt er dabei kurze Hosen, was ihn nicht eben zum Womanizer qualifiziert. Der Pariser Hochadel ist in rauschhaft üppigem Weiß ausstaffiert, eine drohnenhafte Decadence in Reinkultur, während der Privatsekretär des Marquis in asketischem Schwarz den größtmöglichen Kontrast zum Pomp à la Versailles bildet  und damit eine kaum zu überbietende Provokation.

Lukas Bärfuss’ antipsychologische Lesart des französischen Realisten stellt diesen in eine Reihe mit Soziologen wie Didier Eribon, der nicht von ungefähr im Programmheft auftaucht. Dass Nora Schlocker und ihr Team ihm hier bis ins letzte ausgeklügelte Detail folgen, macht diese bemerkenswert heutige Inszenierung zum Ereignis.