Foto: Eleonore Marguerre als Manon am Staatstheater Nürnberg © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 19. Januar 2020
Zu Beginn der Geschichte ist die ungebührlich lebenslustige Titelheldin noch ganz das naive Mädchen im altmodischen Plisseerock und reiht sich am Grenzübergang, der nicht nur vom Guten zum Bösen, sondern vor allem vom Traum zur Illusion führen wird, in die lange Warteschlange ein. Ein Pass für den Zutritt in vermeintlich bessere Welten ist hier zu haben, den Unterschied zwischen Ordnungshütern und Zuhältern gibt es sowieso nicht mehr. Manon, das „kleine Luder“, sollte laut elterlichem Beschluss eigentlich zur seelischen Reinigung ausgerechnet ins Pariser Kloster, ist aber gebannt von der vielfach anwendbaren Liebe auf den ersten Blick – sei es zum dunklen Luxus der französischen Unterweltstadt, zum solventen Verehrer mit dem romantischen Blick oder zum ewig leidenschaftlichen Spiel mit dem Feuer. So die Deutung von heute, die weder Blowjob noch Lido-Glamour scheut. Am Ende des Taumels sitzt sie im Frauengefängnis und lässt die letzte Hoffnung erlöschen. Dazwischen rotieren gefühlspralle Wendungs-Behauptungen, dass es dem Betrachter schwindelig wird.
Jules Massenets Oper „Manon“, anders als Puccinis Vertonung des gleichen Stoffes unter „Manon Lescaut“ und Henzes zeitweise hoch geschätzte Variante „Boulevard Solitude“ aus dem 20. Jahrhundert, musste sich in deutschen Spielplänen erst wieder rappeln. Dass sich nun in Nürnberg eine so profilierte Regisseurin wie Tatjana Gürbaca für ein Experiment mit der Vergegenwärtigung des Melodrams begeisterte, weckte große Hoffnungen. Ihre Ankündigung, die ungebrochene Aktualität eines „bösen kapitalistischen Märchens“ entdeckt zu haben, wo die „Frauen im Warenkreislauf“ der Gesellschaft damals wie heute zur Sicherung des keimenden Selbstbewusstseins „ihre Haut zu Markte tragen“ müssen, konnte das nur verstärken.
Die Gürbaca-Regie setzt auf den Treibhauseffekt abstrakter Räume für ihre ausschwingende Fantasie im Umgang mit konkreten Figuren. Bühnenbildner Marc Weeger entwarf dafür ein dreifach gestaffeltes Gerüst mit späterem Silbervorhang für den Nachtclub-Hintergrund, das vor dem „Restricted Area“-Schild zunächst wie eine Mischung aus U-Bahn-Baustelle und Jahrmarktplatz-Gerippe wirkt. Sperrgebiet für verklärende Romantik, Biotop für Versagensängste. Für die zahlreichen Akteure beim Klettern über die Hindernisse aber auch ständige Stolperfalle jenseits metaphorischer Mehrwertergebnisse. Entlang der geschwungenen architektonischen Objekte sind Unmengen von Glühlämpchen installiert, deren wechselnde Beleuchtung die Gedanken des Zuschauers mit der Begeisterung eines tausendfüßigen Platzanweisers zwischen grellem Traum und grauer Wirklichkeit hin und her lenkt.
Bei der Personenführung herrscht der feste Wille zur „modernen“ Konkretisierung. Man wirft Pillen und zieht sich Kokslinien rein, wenn das Libretto bloß eine improvisierte Zwischenmahlzeit anregt. Der Cousin Lescaut (der Bariton Levent Bakirci wird als Prototyp der Verschlagenheit platziert, bringt aber den besten Massenet-Tonfall des Abends) zieht Manon in den gesellschaftlichen Sumpf, wo ein hysterisch krähender Guillot de Morfontaine (Hans Kittelmann, im Spielplan gerade auch der Tony der „West Side Story“ und so ein Extremist der Vielseitigkeit) mit Unheilportionen für alle Fälle lauert. Besondere Aufmerksamkeit der Regie gilt den religiösen Abschweifungen, ob sie am Kloster vorbei oder direkt zur Bußpredigt in die Sakristei hinein führen. Nachdem die Liebesaffäre mit Manon (Eleonore Marguerre) erstmals geplatzt ist, wählt der Chevalier Des Grieux (Tadeusz Szlenkier) den Weg in den geistlichen Stand. Während er segnet und wandelt, klaut der Küster im Hintergrund die Kollekte direkt aus dem Klingelbeutel, ein Betschwestern-Geschwader fällt über den Teilzeit-Pfarrer her und die verloren geglaubte Geliebte demonstriert bei der Rückkehr an seine Soutanen-Seite ihre neu erwachte Glaubenskraft, indem sie sich die heiligen Hostien massenhaft mit der Hand in den Mund schaufelt. Drastische Brachial-Satire geht also auch irgendwie. So wie die wunderliche Entscheidung, in der natürlich originalsprachig gesungenen Aufführung die kargen „Opéra comique“-Überbleibsel einiger mit Musik unterlegten Mini-Dialoge unerwartet deutsch sprechen zu lassen. Die punktuelle Nähe zum Zuschauer, die damit wohl gesucht wird, führt zu haarfeinen Brüchen im Klang-Tableau, eher zu verstärkter als verringerter Distanz. Gürbaca hat sich in ihrer Idee verheddert.
Erfahrung mit Massenet kann Nürnbergs Oper kaum abschöpfen (der junge Peter Mussbach schuf immerhin mal eine denkwürdige, wenn auch vom Publikum abgelehnte „Werther“-Inszenierung, aber das war im vorigen Jahrhundert), also dirigiert der im guten Sinne routinierte Kapellmeister Guido Johannes Rumstadt wie im Kampfmodus. Bekannt für seine Vorliebe zu Tempo und Farbenspiel kommt er mit den Philharmonikern sehr schnell und ganz gut ins schillernde Schweben, auch wenn die dramatischen Aufschwünge beim Zwischenlanden nicht frei von polternder Akzentuierung sind. Was ihm mehr zu schaffen macht, ist die Verbindung der beiden wichtigsten Sänger mit diesem Sound. Eleonore Marguerre spielt alle Verpuppungen der Sehnsuchtsfigur souverän durch, kann sich lustig machen und im Schmerz schaumbaden, findet als Opfer und Täterin passende Haltungen – aber den verführerisch aufblühenden Ton, der alle seelischen und körperlichen Wunden mit Salbe versorgt, den hat ihr spitzer Sopran nicht. Und auch Tadeusz Szlenkier scheitert mit stämmigem Verdi-Tenor an der imaginierten Massenet-Leichtigkeit, so schmetternd als ob er Puccinis „Manon Lescaut“ oder wenigstens das Finale im Kampf um den Paul-Potts-Pokal im Sinn hätte. Der Chor, von Tarmo Vaask stabil in Stellung gebracht, kann diesem Sog zur flächigen Lautmalerei erfreulich oft widerstehen. Manchmal, in den schönsten Momenten, gelingt Dirigent Rumstadt die stilistische Vereinigung der akustischen Elemente. Die Verbindung zwischen Szene und Klang jedoch bleibt durchgehend brüchig.
Man könnte am Nürnberger Staatstheater spartenübergreifendes #MeToo-sensibles Theater vermuten, denn dort wird nach der „Manon“-Premiere der Oper gerade im Schauspiel ein dokumentarisches Projekt „Sex Arbeit“ über Frauen im örtlichen Rotlicht-Bezirk vorbereitet und später mit Schnitzlers einstigem Skandalstück „Der Reigen“ in geteilter Mann- und Frau-Regie nachgelegt. Aber als Basis dafür ist Tatjana Gürbacas von den eigenen Einfällen überwucherte, beim Knüpfen der neuen Handlungsfäden von Knoten zu Knoten eilende Inszenierung, die im März sogar Thema für ein theaterwissenschaftliches Symposion sein wird, zu wenig zielführend. Das Premierenpublikum zeigte Größe, es blieb bei aller Irritation verhalten freundlich.