Foto: Das deutsch-namibische Ensemble von „Hereroland“ am Thalia Theater © Armin Smailovic
Text:Michael Laages, am 20. Januar 2020
Wie elend wenig wir doch immer noch wissen von all dem Schrecken, den die Generation der Ur- und Urgroßväter angerichtet hat vor etwas mehr als hundert Jahren, noch vor dem großen Weltkriegsschlachten in Europa… die finstre Geschichte des deutschen Kolonialismus im Südwesten Afrikas rückt erst seit kurzem ins Bewusstsein der Zeitgenossen; auch weil die Nachfahren von Herero und Nama, der zentralen Opfer-Völker jener mörderischen Epoche, mittlerweile so beharrlich streiten um direkte Entschädigung für die ungezählten Toten. Es gibt aber Brücken – Autor und Regisseur David Ndjareva aus Namibia und der Hamburger Kollege Gernot Grünwald haben sie gebaut und betreten sie beim Auftakt der mittlerweile 11. „Lessingtage“, dem internationalen Festival am Thalia in Hamburg. „Hereroland“ heißt der Abend, er wurde als namibisch-deutsches Projekt koproduziert mit dem NTN, dem National Theatre of Namibia. Von dort brachte Ndjavera die Hälfte des Ensembles mit; gemeinsam mit Hamburger Thalia-Kräften wird „Hereroland“ im Sommer auch in Namibia zu sehen sein.
Mit Grünewald, erfahren in Recherche-Projekten dieser Art, hat Ndjavera eine Raum-Installation voll von Information und theatralischer Phantasie kreiert. Eine Fabel für die Bühne steht im Zentrum – das gemischte Ensemble will von der Geschichte des brutalen deutschen Kolonialismus im südwestlichen Afrika in einer Art Gerichtsverfahren erzählen; hie die Nachfahren der ungezählten Opfer aus den Stämmen der Herero und Nama, die vor mehr als hundert Jahren von deutschen Militärs niedergemetzelt wurden, da die Erben der Täter. Und inmitten der beiden Gruppen agiert eine Art überzeitlicher Harlekin, ein Eulenspiegel, der sich als altersloser, unsterblicher Baumgeist ausweist – der historisch kaum zu bewältigende Konflikt, in dem die einen die kaum erfüllbare Forderung formulieren „Gebt uns unsere Toten zurück!“ und sich die anderen (wir!) noch immer viel zu oft in fahrigen Entschuldigungsversuchen verzetteln, bekommt mit dieser Geisterbeschwörung einen sehr poetischen Kern.
Die Szenen dieses historischen Prozesses spielen in der Mitte der Thalia-Bühne von Michael Köpke; drum herum haben Grünewald und Ndjavera ein vielgestaltiges Raumprojekt realisiert. An fast zwanzig Orten wird das Publikum mit Information und Atmosphäre versorgt; immer nur für fünf Minuten, von einem historischen Herero-Horn jeweils zum Weiterwandern gerufen, driftet jeder und jede auf einem anderen Parcours durch diesen Raum der Welten: vom Kindergarten zum Friseur, vom Baum- und Ästehaus ins Wüstenzelt und weiter an den Stammtisch der Farmer, in die gruselige Finsternis der Waterberg-Schlacht vom 11. August 1904 (in dem die Herero vernichtet wurden) wie unter Virtual-Reality-Brillen und in die Begegnung mit jungen namibischen Frauen von heute. Und überall ist Geschichte mit Händen und Sinnen zu greifen: Tod und Ausbeutung, Vergewaltigung und Folter. Auch die speziell hamburgischen Kaufleute geraten ins Visier, die, die ihren Schnitt machten bei der Kolonisierung in Namibia.
Zwei starke Stunden sind das. Und gerade weil speziell die westdeutsche Politik die unauflösbare Schuld der eigenen kolonialen Tätergeschichte erst so elend spät angenommen hat, wird diese namibisch-deutsche Begegnung mit den Mitteln des Theaters zum herausragenden Ereignis.
Schon seit geraumer Zeit aber geben sich die „Lessingtage“ ja nicht mehr zufrieden mit außergewöhnlichem Theater – die Bühne gehört zur Eröffnung stets prominenten Rednerinnen und Rednern. Jetzt meldete sich Vananda Shiva zu Wort, Trägerin des alternativen Nobelpreises, Physikerin und Initiatorin einer in Indien enorm einflussreichen Bewegung für die Bewahrung traditionellen Saatgutes und gegen die Patent-Strategien der global agierenden Unternehmen auf diesem für die Welternährung so immens wichtigen Feld. Shivas flammender Appell für die Wertschätzung natürlicher Ressourcen und gegen die neue Kolonialisierung durch die Industrien markierte die Richtung des Festivals, das zwar wie immer unter dem Lessing-Motto „Um alles in der Welt“ steht, diesmal aber auch genauer und konkreter fragt: „Wem gehört die Welt? Who owns the world?“
Viele Antworten wird es geben, im Theater und darüber hinaus; und keine wird uns richtig zufrieden stellen.