Foto: Die enorme Spielfreude rettet den Abend: hier Benjamin Nazemi, Zumreta Sejdovic, Bettina Stucky, Jannik Nowak und Gala Othero Winter. © Christian Bartsch
Text:Nicolas Garz, am 15. Dezember 2019
Wollen wir das perfekte Leben? Ist eine Welt, in der jeder Mensch immer alles richtig macht, überhaupt erstrebenswert? Oder wäre das eine neue Form der Diktatur, eine Tyrannei der Vernünftigen, Sauberen, Makellosen? Diese Fragen wabern unbeantwortet durch den Innenraum der Immanuelkirche in Hamburg-Veddel, während sich die Darsteller des Hamburger Schauspielhauses in der Uraufführung von „Menschen, Göttern gleich – Veddeltopia“ bereits zum Applaus verbeugen. Nach einem kurzweiligen und deutlich zu kurzen Auftritt, der wichtige Fragen anreißt – aber leider zu wenig Raum für eine wirkliche Auseinandersetzung schafft.
Zur Einordnung: Paulina Neukampfs Inszenierung „Menschen, Göttern gleich – oder: Veddeltopia“ basiert lose auf dem Roman „Ein modernes Utopia“ von H. G. Wells, einem der Begründer der modernen Science-Fiction. Wells beschreibt darin die Ankunft zweier Erdbewohner auf einem fremden Planeten. Obgleich dieser Planet optisch mit der Erde identisch ist, stellt sich das Zusammenleben als grundverschieden heraus: Es gibt keine Kriege, keine Konflikte, keine Krankheiten. Der letzte Keim ist schon seit langem ausgerottet. Mann und Frau leben vollkommen gleichberechtigt, jede Entscheidung wird im Konsens gefällt. Sogar der Verzehr von Fleisch ist Tabu.
Eine perfekte Welt, ohne jegliche Dissonanz, ohne Unruhe, und ohne die Reibungen, die das Leben oft unwirtlich, aber eben auch aufregend machen. Von dieser Gegenüberstellung zwischen Utopia und der heutigen Realität erzählt „Veddeltopia“. Genauer: von dem Aufeinandertreffen der Utopia-Bewohner, die in ihren weiß-silbernen Folienkostümen wie aus Sci-Fi-B-Movies in den Achtzigerjahren wirken, mit dem heutigen Europa. Die Europäische Union besteht hier aus einer fünfköpfigen Fitnessgruppe in Trainingsanzügen, die sich im Kreis rennend fit für das europäische Projekt macht, andächtig Beethovens Neunter lauscht, und sich zwischendurch im Stonehenge-Steinkreis aufstellt, zur meditativen Europa-Gymnastik.
Zum Ausruhen setzen sie sich danach auf gestapelte Europaletten (das Zentrum eines schlichten, der Spielfreude Raum gebenden Bühnenbilds von Julia Katharina Berndt), die an diesem Abend sinnbildlich stehen für den Zustand der EU: eine ehemalige Friedensgemeinschaft, die sich nur noch über den gemeinsamen Handel definiert. Und selbst dieser allerkleinste Nenner ist in Gefahr, denn schon bald streiten die Jogginghosenträger darüber, ob die harten Holzpaletten durch bequeme, ergonomisch gesündere Plastikstühle ersetzt werden sollten. Die Spiellust des Ensembles (beispielhaft: Bettina Stucky als wortgewaltiger Kopf der Truppe, sowie Gala Othero Winter mit grimassenstarken Slapstick-Einlagen) trägt diese erste Hälfte der Inszenierung, die eindeutig zu lange dauert – und zur eigentlich Thematik wenig beiträgt. Denn dass im heutigen Europa nicht alles glatt läuft, war wohl jedem schon vor Aufführungsbeginn klar. Was aber ist die Alternative?
Diese Frage tritt mit Ankunft der Utopia-Bewohner ins Zentrum der Geschichte. Die Neuankömmlinge machen schnell klar, dass ihre Weltordnung die vernünftigere, also die bessere ist – weswegen sie von jedem Einzelnen ohne Murren akzeptiert wird. Jedes davon abweichende Urteil ist hingegen automatisch unvernünftig, irrational und schädlich. Und das Unvernünftige, das Irrationale, das Schädliche gibt es in dieser Welt ja nicht mehr. Ein totalitärer Zirkelschluss, der gerade dadurch verführerisch wirkt, dass die Utopisten eben nicht in einem grausamen System gefangen wirken, sondern in absoluter Glückseligkeit leben.
So entwickelt sich auf der Bühne ein verheißungsvolles Aufeinandertreffen zweier Welten, gespickt mit Live-Aufnahmen einer Handkamera. Die perfekte, aber sterile Welt gegen die gefährliche, aber „vibrierende Realität“, wie es einmal in der Inszenierung heißt. Der Kern des Konflikts beider Welten offenbart sich bald: Weil Freiheit eben auch bedeutet, wild und unvernünftig zu leben, muss sie aus der Idealwelt verbannt werden. Zum Ende der Inszenierung lehnt sich eine Sportlerin der Europa-Truppe gegen die neue Ordnung auf – und fordert echte Freiheit statt Keimfreiheit.
Die Folge: Sie wird in Quarantäne gesteckt, woraufhin ihre Mitstreiter die Kirchentore aufreißen und in die kalte Hamburger Winternacht fliehen, anstatt den Konflikt zu suchen – und an dieser Stelle endet die Inszenierung leider. Denn „Veddeltopia“ könnte mehr sein als ein unterhaltsamer Theaterabend, mehr als keimfreie Zukunft gegen Jogginghosen-Gegenwart. Hätte Neukampf ihrer eigenen Inszenierung eine halbe Stunde mehr und eine mutige Zuspitzung des Konflikts gegönnt, das Publikum wäre am Ende um einige Erkenntnisse reicher. Oder zumindest um ein paar Denkanstöße. Oder es hätte wenigstens miterleben können, wie sich fünf Menschen mit echten Gefühlen hin- und herwinden zwischen dem Versprechen eines perfekten Lebens – und dem Willen, diese Saubermenschenwelt kurz und klein zu hauen. Einfach, weil sie es können. Einfach, weil sie frei sind.