Auch Lohengrin kommt unspektakulär daher: taucht einfach irgendwann hinten auf der Bühne auf, dunkle Hose, weißes Hemd mit aufgeschlagenen Manschetten. Ein lässiger Typ aus gutem Hause. Aber kein Schwan, nirgends. Oder doch? Ein Video liefert endlich eine konkretere Fährte: Da sitzen zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, kerzengerade am Esstisch und löffeln Suppe. Der wuschelköpfige Bub sieht aus wie Klein-Lohengrin, und das Mädel wird dann ja wohl Klein-Elsa sein. Merkwürdigerweise finden sie in der Suppenschüssel einen weißen Feder(!)ball, der kaum im Rezept stehen dürfte und also etwas bedeuten muss. Und da schwant es einem dann doch. Steht er womöglich für Lohengrins Transportvogel? Tatsächlich dient er später als Erkennungszeichen, mit dem sich Lohengrin gegenüber Elsa verstohlen als ihr Suppenkumpan aus Kindertagen offenbart.
Und da ein Text aus dem Märchen der Brüder Grimm die beiden als Brüderchen und Schwesterchen ausweist, schwant einem noch viel mehr: Nämlich erstens, dass aus diesem Text womöglich auch das Rehlein kommt, das unvermutet auf der Bühne auftaucht und von Ortrud ziemlich beiläufig wieder abtransportiert wird. Schließlich ist auch das Grimm’sche Reh ein verwunschenes Brüderchen, ebenso wie der Schwan, in dem bekanntlich Elsas Bruder, der Knabe Gottfried, steckt. Zweitens aber, und weitaus schlimmer: Wenn die Analogie zum Märchen wirklich tragen soll, dann wäre Lohengrins und Elsas Liebe inzestuös – was das Verbot der Frage nach „Nam und Art“ in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt.
Nur leider in keinem erhellenden Licht. Denn dass „Lohengrin“ als Inzestgeschichte nicht funktioniert, sieht man allein schon daran, dass Kerkhof mit der Handlung auf der Bühne über weite Strecken nichts anzufangen weiß. So viel schales, konzeptionell vollkommen ratloses Stehtheater mit x-beliebigen Gefühlsgesten habe ich zuletzt bei einer konzertanten Aufführung gesehen. Kerkhof landet immer mal wieder einen schönen szenischen Coup, beispielsweise mit dem Spiegel im Brautgemach, wo sich die Spiegelbilder in Vertretung des leider nicht zum Mordversuch erscheinenden Telramund selbständig machen. Aber keiner dieser Coups führt zu einer sinnstiftenden „Lohengrin“-Interpretation. Auf die Länge wäre der stets gut aussehende Abend in seiner dunklen Bild- und noch viel dunkleren Rätselhaftigkeit szenisch stinklangweilig – wenn er musikalisch nicht so spannend wäre. Und das liegt sowohl an dem dramatisch hochpräsenten Sängerensemble und der zugespitzten, enorm differenzierten Klangkraft des von Fabio Mancini sehr sorgsam präparierten Chores (da verzeiht man auch die erwähnten Wackeleien) als auch am enorm profilierten Orchesterspiel. Gabriel Feltz, GMD des Hauses, arbeitet die Konturen extrem plastisch heraus, er musiziert ganz aus der Struktur. Das ist in jedem Augenblick fesselnd – versteift sich aber manchmal auch zu sehr auf den Augenblick. Da fehlen dann dramatische Bögen, so dass die einzelnen Episoden wie eine Folge effektvoll zurechtgelegter „Nummern“ wirken. Und die A-Dur-Mirakel der „Wunder“-Klänge hätten vielleicht ein bisschen zarter und auch reiner schimmern können.
Unter den Sängern hat mir vor allem Daniel Behles Lohengrin gefallen. Er kommt ja vom lyrischen Fach und verleugnet das auch hier, bei seinem Debüt in einer dramatischen Partie, nicht. Gerade die berüchtigten heiklen Piano-Klänge – „mein Lieber Schwan“! – gelingen ihm großartig, weil er da genau die richtige Balance aus Zartheit, Einfühlsamkeit und Stabilität findet Die dramatischen Steigerungen kamen durchaus kraftvoll, könnten aber noch einen Zuwachs an Glanz und Virilität vertragen. Sehr eindringlich war auch der dunkel-glühende, aber nie wüst chargierende Telramund von Joachim Goltz. Christina Nilsson, die 28 Jahre jung ihr Debüt als Elsa gab, hat eine hübsche, helle, funkelnde, dabei aber durchaus tragfähige Stimme. Aber ich fand sie zu einförmig im Klang, ihr fehlte die Wärme, auch die Dringlichkeit, und im forcierten Forte wurde der Klang schrill. Stéphanie Müther war eine Ortrud von lodernder Dramatik, verfiel dabei aber auch gern mal ins Outrieren und klang dann überforciert und grell. Und Shavleg Armasi verausgabte sich als König Heinrich mit Verve – und kompensierte damit ein gewisses sonores Manko.
Am Ende Standing Ovations für Sänger, Chor, Dirigent und Orchester – und eine Bravo-Buh-Battaille für das Regieteam.