Drei Akte wählen sie dafür, wie sie auch das Original hat, nur auf jeweils eine halbe Stunde Dauer stark verkürzt – oder eben vielmehr: konzentriert. Denn das männlichkeitsdominierte Drumherum wird ausgeklammert, allenfalls erscheint es wie eine dumpfe Erinnerung noch in kurzen Rangelszenen zwischen Lohengrin und dem (stimmlich beeindruckenden) Friedrich von Telramund (Mandla Mndebele) – doch selbst das sind Konflikte vor dem Hintergrund dessen, was zwischen Lohengrin und Elsa passiert. Ortrud (Hyona Kim) und ihr Gatte sind hier nämlich nicht in erster Linie die rachlüsternen Neider, sondern Freunde Elsas, die nur ihr Bestes wollen – zumindest meistens.
So entspinnt sich über den Abend hinweg eine psychologisch ausgefeilte Viererkonstellation, in dessen Zentrum Elsas Entscheidung steht, Lohengrin die verbotene Frage nach seinem Namen und seiner Herkunft zu stellen – oder eben nicht. Dass Elsa die Bedingung nicht einhalten würde, das wusste schon Wagner, nur geschieht ihr Fragen in seinem „Lohengrin“ aus anderen Gründen: charakterliche Schwäche vielleicht oder sündenhafte Neugier – wie auch Eva, als sie nach dem Apfel greift.
In „Neverland“ ist das Fragen hingegen ein Akt der Selbstbestimmtheit. Diese Elsa lässt sich nicht den Mund verbieten, auch nicht von dem Mann, der sie scheinbar so sehr liebt. Sie will eine ehrliche Beziehung führen, ihren Partner beim Namen nennen können, wie er es auch bei ihr ganz selbstverständlich tut. Offene Karten, auf beiden Seiten, das ist ihre Bedingung. Und Lohengrin, von Elsas leidenschaftlicher Unruhe und ihrem Fordern immer weiter in die Ecke gedrängt wie ein Tier im Käfig, wird zunehmend fahrig und aggressiv. Im grellen Licht, als wäre die Szene ein Verhör, stellt sie schließlich ihm die Frage, während er noch versucht, ihr dabei den Hals zuzudrücken. Was für eine intensive Personenführung durch die Regie von Alvaro Schoeck! Was für eine Entwicklung vom zarten und verliebten Umwerben, das ganz spielerisch beginnt, bis hin zu diesem Gewaltausbruch – Lohengrin verrät tatsächlich nicht nur, wie er heißt, er zeigt auch, wer er ist: bereit, die Geliebte zu erwürgen, um sie nicht verlassen zu müssen. Bereit, zu töten, um nicht erkannt, nicht entblößt zu werden.
Aber: Sind Namen tatsächlich so wichtig? Bei Wagner fragt Elsa, als wäre der Name gleichbedeutend mit dem Sein, als wäre „Wie heißt du?“ die gleiche Frage wie „Wer bist du?“. Im Fall von Wagners Fassung des „Lohengrin“ mag das kryptisch bleiben, hier ist es weniger uneindeutig: Tatsächlich weiß Elsa von diesem Mann, den sie im Liebestaumel naiv geheiratet hat, so gut wie gar nichts – außer den Geschichten, die man sich von ihm erzählt. In der Frage steckt also mehr als nur der Wunsch zu wissen, mit wem sie es zu tun hat – es ist auch eine Frage an sich selbst: Wen hat sie dort geheiratet? Was hat sie eigentlich geritten, sich diesem Unbekannten für immer zu versprechen? In „Neverland“ fragt nicht das unwissende, naive Weib, das zuvor gerettet und um das ganz herrschaftlich gekämpft werden musste – es fragt eine selbstbestimmte Frau. Eigentlich war es für Lohengrin in der hier nicht erzählten Vorgeschichte viel zu einfach, sie zu gewinnen. Diese Frau „gewinnt“ man nicht und besitzt sie dann für immer, diese Frau will mitreden, und sie zweifelt an sich selbst und an ihrer Rolle in dem ganzen Tohuwabohu.
Erstaunlich ist, dass diese beinahe konträre Umdeutung der Verhältnisse im „Lohengrin“ funktioniert, obwohl sich Komposition und Text die allermeiste Zeit ans Original halten. In kleiner Kammerbesetzung (Streichquartett plus Oboe/Englischhorn, Fagott und zwei Hörner) arbeitet „Neverland“ die wichtigsten Leitmotive und Klanggebilde Wagners heraus, und Dirigentin Satomi Nishi erschafft mit diesem Material hochkonzentrierte musikalische Momente.
Als Lohengrin sich dann entblößt, als er, wieder in den Sessel zurückgesunken, beginnt, seinen Schlussmonolog zu singen, da ist Elsa schon weg. Zusammen mit Ortrud verließ sie die Szenerie, scherzend, unabhängig, nachdem Lohengrin sie gewürgt und zu Boden gerungen hatte – sie lässt den Mann einfach zurück, der ihrer Beziehung zu viele Probleme bereitet hat mit seiner seltsamen Befindlichkeit. So gesehen ist sie ganz gut davon gekommen. Lohengrin aber singt sein „In fernem Land, unnahbar euren Schritten/ liegt eine Burg, die Monsalvat genannt“ nur noch für sich, allein um ihn herum schwebt oder schwimmt ein Schwan, dessen Hals und Flügel bezeichnenderweise aus Elsas Brautschleier bestehen. Dann stirbt er, mit offenen Augen. Ohne eine hörige Elsa und ohne sein Geheimnis ist er nicht mehr Lohengrin. Dieser Mann muss sich angesichts der modernen Frau neu definieren – und plötzlich ist Wagner hochaktuell.