Florian Zeller, einer von Frankreichs erfolgreichsten zeitgenössischen Theater- und Roman-Autoren, hat diese Geschichte vom stillen Schrecken der Depression geschrieben. Und es ist purer Zufall, dass Hamburgs St. Pauli Theater die hauseigene Zeller-Tradition in dem Moment fortsetzt, da Katie Mitchell am Schauspielhaus „Anatomie eines Suizids“ zeigt, das Stück der Engländerin Alice Birch, das den Spuren von Depression und Selbstmord unter Töchtern und Müttern nachgeht, über die Generationen hinweg. Zellers Blick in den Abgrund lässt das Publikum kaum weniger ratlos zurück.
Und mit der Figur des Sohnes (den am St. Pauli Theater in der Inszenierung des Intendanten Ulrich Waller der junge Dennis Svensson spielt) formt der Autor das pure Rätsel – nichts ist dem depressiven Jungen zu entlocken in vielen Gesprächsversuchen, kein echtes Motiv, keine Wahrheit; und niemand kann sagen, ob ihm Mediziner nahe kommen würden, wie der kluge Arzt, der ihn lieber in geschlossener Beobachtung behalten würde, als Schutz gegen sich selbst. Ratlos sind alle vor dieser Selbstzerstörung, am ratlosesten womöglich der Zer-störer selbst.
Nun funktioniert Zellers Stück aber zunächst wie eine Komödie; und das Hamburger Publikum, gewöhnt an den heiteren Zeller, etwa aus „Eine Stunde Ruhe“, auf der Bühne wie im Kino, nimmt die Echos eher amüsiert, die der unlösbare Fall des Sohnes von Beginn an auslöst. Die Mutter ist stark überfordert, derweil scheint der Vater die Herausforderung energisch anzunehmen: dass er jetzt die zentrale Bezugsperson sein soll. Und er gibt sich unerhört viel Mühe, wirklich alles richtig zu machen – aber es gehört zu den erstaunlichen Momenten in Zellers Text (den Annette und Paul Bäcker übersetzt haben), dass die Ahnung möglichen Scheiterns immer schon mitschwingt, wie energisch auch immer Papa Pierre behauptet, dass schon alles irgendwie gut werden würde.
Unterschwellig wird immer deutlicher, dass sich das Nicht-Verstehen zwischen den Generationen nur wiederholt – auch Pierre, der erfolgreiche Anwalt, der gerade zum Politikberater aufsteigen soll, war dem Vater mit dem Jagdgewehr grundsätzlich abhanden gekommen. All das spielt der mittlerweile überaus fernsehpräsente Herbert Knaup – der aber hinter der Fassaden-Kunst, die er für den Bildschirm benötigt, offenbar einiges bewahrt hat aus der Zeit, da er zu Günter Krämers Ensemble am Schauspiel in Köln gehörte. Das ist lange her – aber es ist gut zu sehen, wenn das Medien-Handwerk die Schauspiel-Qualitäten nicht verschüttet. Knaup nimmt die Rätsel des unerklärlichen Sohnes eindrucksvoll und wie gespiegelt herüber in die eigene Rolle – die sich nun nicht mehr erschöpfen kann im oberflächlichen Alles-wird-gut-Modus.
Johanna Christina Gehlen als Mutter des Problemsohns (der Papa im gemeinsamen Leiden wieder näherkommt) und Sinja Dieks als junge Freundin sind starke Partnerinnen; mit Peter Franke als Arzt kommt Vernunft ins verzweifelte Spiel. Ulrich Waller inszeniert schnell und konzentriert auf den Dialog; in der Bühne von Raimund Bauer, die durch verschiebbare Wand-Segmente umstandslos Räume schafft.
Autor Zeller war nach Hamburg gekommen; keine deutsche Bühne pflegt ihn wie das kleine Theater auf St. Pauli. Schon das Alzheimerstück „Der Vater“ (auch an diesem Haus zu sehen) wies Zeller als Dramatiker jenseits von Komödie und Entertainment aus; vielleicht bringt „Der Sohn“ ihm endlich die Anerkennung, die er auch in Deutschland verdient.