Foto: Seltsam, was der Entdecker so alles entdeckt: Johan Hyunbong Choi als Christophe Colomb mit Zachary Wilson als Engel © Jochen Quast
Text:Matthias Schumann, am 23. Oktober 2019
Denkt man in Deutschland an die Zeit zwischen den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts, so ist die Assoziationskette in der Regel klar: Flapper Girls, die „wilden“ oder gar „goldenen“ 20er, Jazz, Übermut, Döblin, Brecht und Weill – und all die klare Kunst, die neue Sachlichkeit, das Bauhaus und der deutsche Film mit Lang, Murnau und Pabst. Dabei hatte sich schon vor dem Krieg eine ganze Reihe von separatistischen, teils auch eskapistischen Bewegungen entwickelt: Lichtanbeter, Vegetarier, Sinnsucher. Auch das strenge Bauhaus hatte mit Johannes Itten einen esoterischen Guru in seinen Reihen, sein Mazdaznan-Kult ist heute aber weitestgehend vergessen.
Kaum bekannt sind auch die konservativen Strömungen des Katholizismus, vor allem in Österreich und Frankreich. Auch in dieser Bewegung finden sich die Tendenzen zur Übersteigerung, zur Weltflucht, zu zum Teil merkwürdiger Sektiererei. Der französische Dichter Paul Claudel gehört zu den gemäßigten Vertretern dieses Renouveau catholique, er schrieb das Libretto zu der bislang kaum aufgeführten Oper „Christophe Colomb“ von Darius Milhaud, die das Lübecker Theater nun mutig auf den Spielplan setzte. Der katholischen Dichter und der jüdische Komponist schufen damit ein überaus merkwürdiges Werk, überbordend in der musikalischen wie szenischen Anlage und vor allem mit großem Überwältigungswillen versehen.
Vom Aufbau her ein moritatenähnlicher Bilderbogen, ist es voller Großchöre, archaisch-punktierter Rhythmen und überbordender Forte-Passagen. Die Handlung erzählt von der merkwürdigen Apotheose des Entdeckers Christoph Columbus – Versuchung, Kreuzigung, Himmelfahrt. Die Uraufführung dieses Werkes fand am 5. Mai 1930 nicht etwa im katholischen Frankreich statt, sondern im Kern des europäischen Jazz-Age, an der Berliner Staatsoper unter Erich Kleiber. Nur zwei Monate zuvor hatte Kurt Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in Leipzig Premiere gehabt. Der Librettist war der Proletarierdichter und Theatererneuerer Bertolt Brecht.
In Lübeck nun hat man sich mit großem Ernst mit dieser sprachlastigen Großoper beschäftigt. Aufwendige Videoeinspieler, mitunter der Ästhetik des Expressionismus der 20er folgend, wurden produziert, um den ursprünglichen Filmprojektionen von 1930 ein zeitgenössisches Gewand zu geben. Die Inszenierung des Mainzer Tänzers und Regisseurs Milo Pablo Momm nutzt den Orginaltext der Uraufführung von Rudolph Stephan Hoffmann. Dazu kommt ein gestandenes Triumvirat aus zwei Kunsthistorikerinnen und einem Ethnologen, die die Inszenierung wissenschaftlich beraten haben – und damit auch die Richtung vorgegeben, aus dem das Opus Magnum heute zu lesen sei. Kaum eine andere Debatte beschäftigt die deutsche Museumslandschaft zur Zeit ja mehr als die um Restitution und Kolonialismus, treibt Umbenennungen von Museen und Symposien zur Rückgabe von Artefakten an. Schon die Video-Eingangssequenz, „Prozession“ überschrieben, führt direkt in die Archive der Völkerkunde-Sammlung der Lübecker Museen – und die Fallhöhe des Entdeckers ist somit vorbestimmt.
Man hört indigene Originaltexte über Blumen und Kakao, sieht amerikanische Ureinwohner, die klartextliche Graffiti an den wechselnden und ansonsten reduziert-weißen Bühnenzentralelementen der Drehbühne (Bühne: Erika Hoppe), anbringen: „Ma C’ubah than“. Es ist die Antwort, die der Eroberer Hernán Cortés bekam, als er nach dem Namen des von ihm begehrten Landes fragte – „Yucatan“. Der Satz bedeutet: „Ich verstehe dich nicht“ und wird zum Topos fehlenden Verständnisses zwischen den Kulturen. Im Schlussbild wird das Zitat auf heutzutage ikonischen Demonstrations-Papptafeln erneut präsentiert, als Zeichen der Anklage. Das passt in unsere überwiegend moralische Jetztzeit. Das Politische stellt sich vor das Religiöse. Der wunderlich anmutende Abschluss des Columbianischen Lebens in christlichen Bildern, dagegen, die Kreuzigung des „Erlösers“ mit anschließender Himmelfahrt, bleibt vorwiegend uninterpretiert – möglicherweise ist die an Übersteigerungen ohnehin nicht arme Oper auch nicht die Kunstform für solcherlei religiösen Budenzauber.
Musikalisch ist das mächtige Unterfangen ohnehin geglückt, Andreas Wolf ist, wie der regelmäßige Opernbesucher in Lübeck weiß, ein begnadeter Bühnendirigent, sattelfest in vielerlei Stilen. Auch die musikalische Machtdemonstration Milhauds versteht er gekonnt auszubalancieren. Haus-Bariton Johan Hyunbong Choi schlägt sich wacker und stabil in der Titelrolle, und Daniel Jenz, der einst in Lübeck zu einem großartigen Spieltenor reifte (inzwischen ist er in Kassel tätig), darf als Gast in einer Art komprimierten Rolle als stets verneinender Geist mit Nosferatu-Fingern ein paar eindrucksvolle Register ziehen. Lokalstar Evmorfia Metaxaki ist mit der Columbus-Förderin Isabella möglicherweise etwas unterfordert, beschenkt aber das Publikum wie nebenbei mit ein paar hinreißenden Phrasierungen – das Wort „Majorca“ hat nie zauberischer geklungen.