Foto: Heiteres Blutvergießen: Josepha Grünberg, Franz Lenski und Luis Lüps in "König Ubu" am Stadttheater Fürth. © Thomas Langer
Text:Dieter Stoll, am 12. Oktober 2019
Dieser einzige kleine Zusatz-Buchstabe, der als Verfremdungsmirakel in die Theatergeschichte eingegangen ist, darf gar nicht mehr mitspielen: In Jean Renshaws Inszenierung „König Ubu“ von und nach Alfred Jarry am Stadttheater Fürth gibt es weder „Merdre“ noch „Schreiße“, die so legendär verrückten Skandalbegriffe, wohl aber völlig unbefangen das drastische Originalwort. Was natürlich sowieso niemanden aufregt, heutzutage. Aus dem stacheligen Pflänzchen seiner Pennäler-Posse, das der Autor in seinem kurzen Leben zum wild wuchernden Sumpfgewächs des absurden Theaters hegte, ist eine Legende geworden, die bis in die Gegenwart immer mal wieder Lust zur Auseinandersetzung befeuert, obwohl das Provokante im Drama für jede neue Runde erst fixiert werden muss – den Vater Ubu beim Blick zurück zur Quelle zu sehen oder im riskanten Sprung zu den Zeitgenossen der Aufführung zu beflügeln.
Jean Renshaw (Regie und Text-Einrichtung) hat sich vom Ausstatter Alfred Peter einen nüchternen Konferenzsaal mit kippenden Tischen und rollenden Stühlen bauen lassen, wo der Aufsichtsrat der Firma „Polen“ vor der steil nach unten zeigenden Erfolgskurve zunächst mit dem Rücken zum Publikum sitzt und – dem Schicksal und dem pöbelnden Chef ergeben – ¬nach Krisenbewältigung sucht. Eine alsbald oft genutzte Tür führt zur Toilette, die mit dem Durchblick zu den Kacheln und dem Rauschen der Wasserspülung die blubbernde Präsenz des dummdreisten Vorsitzenden signalisiert. Sobald er die einen Geschäfte erledigte, widmet er sich mit noch größerer Vehemenz den anderen. Da vernichtet er im Umsturz mit fuchtelnder Pistole und Kopfschuss bei aufspritzendem Blut die Untergebenen, während die nicht weniger verhasste Mutter Ubu an seiner Seite kreischend zum weiteren Massakrieren anfeuert. Nicht ohne hochherrschaftlichen Gegenentwurf für den Eigenbedarf, der verlockenden Vision eines paradiesischen Lebens, in dem die Leberwurstbrote nie ausgehen. Das grauenhafte Paar (jung besetzt mit Luis Lüps und Josepha Grünberg, die wie ein blitzsauberes Flugbegleiter-Duo in die quasi unter Anführungszeichen angenommenen grellen Rollen schlüpfen) stürzt den König Wenzel, holt sich dessen Zepter und Krone, zieht in den Krieg, rastet aus, mordet, ist feige, fällt ins Nichts. Einfach irre. Der Kronprinz aus dem alten Königshaus kann wieder übernehmen, macht ein Selfie und wird laut Auskunft des Nachrichtensprechers, der immer mit einem kompletten TV-Gerät als Kopfschutz auftritt, „im goldenen Lamborghini“ zum Thron geleitet. Das relativiert die vorherige Verheißung vom Wurstbrot („Leberwurst – Laberwurst“, spottet man bei Hofe) denn doch deutlich.
Bis dahin ist einiges zu erleben im gelegentlich in Richtung Karl Valentin verrutschenden Absurditäten-Kabinett. Noch vor dem Abdanken muss der alte König die Gemahlin per Zangengeburt von Zwillingen entbinden (zwei elastische Gummi-Nabelschnüre von je vier Metern sind zu bewundern), man stößt auf die Logik von Geheimgängen im Ernstfall (keiner kann sie finden, weil sie ja geheim sind), hört die überirdische hallenden Worte eines Erzengels (und sieht den leeren Eimer, in den der Akteur hineinspricht) und erfreut sich am Aufgalopp eines staatlichen „Finanzpferdes“ (was ein Supermarkt-Einkaufswagen mit Schaukelpferdkopf ist). Derweil werden die Blutspuren immer breiter, die Anarchie ergreift ruppig das Bühnenbild und es kann gerade noch geklärt werden, warum das Volk immer alles bezahlen muss: „Das Volk darf schließlich sterben“, hört man aus dem Königshaus.
Das große Aphorismen-Donnerwetter ist in der Renshaw-Inszenierung nur laut geschaltete Randerscheinung, denn die Stärken dieser Regisseurin, die aus der Choreographie kommt und in Fürth ja auch schon ein feinfühliger angelegtes Tanztheaterstück mit dem Titel „Könige“ schuf, bleiben bei Bewegung und Musik. Ein vorzügliches Quartett (Andreas Blüml, Frieder Nagel, Norbert Nagel, Werner Treiber) umspült die Szenen mit Soundtrack aus dem Orchestergraben, manchmal so süffig, dass kurzfristig die Hoffnung keimt, es könnte Jacques Tati zur Hilfestellung um die Ecke biegen. Im Ensemble mit fünf Schauspielerinnen und Schauspielern und fünf Statistinnen und Statisten ist der artistisch einsteigende Tänzer Martin Dvorák (er ist auch sein eigener Choreograph) ein Dreh- und Angelpunkt der Produktion. Bei der Dialogregie allerdings dominieren die Temperaments-Pauschalen, die aufgebäumte Sprache von Alfred Jarry (in der Übersetzung von Marlis und Paul Pörtner) wird von den differenzierter angelegten szenischen Attacken verwischt. Einmal in dieser Aufführung twittert das Großmaul im Amt, der polternde König Ubu; was mag bloß damit gemeint sein? Am Ende war das Premierenpublikum offenbar weder provoziert noch herausgefordert, es applaudierte dezent.