Foto: Cordelia Wege in der Uraufführung von "Politiker" von Wolfram Lotz © Arno Declair/Deutsches Theater Berlin
Text:Barbara Behrendt, am 31. August 2019
Auf der Bühne nichts als ein gigantisches Windrad. Es steht still. Sieben Kreaturen gruppieren sich davor in märchenhaften Masken und fantastischen Folklore-Kostümen. Aus einem dicken Buch lesen sie im Chor Fetzen von Schlüsselsätzen aus Shakespeares „Lear“: „Die Augen ausgelaufen und siehst doch trotzdem, wie’s zugeht auf der Welt. Ich schnapp nach Leben. Ich will noch etwas Gutes tun meiner Natur zum Trotz. Ich weiß, wann einer tot ist und wann einer lebt. Herz, ich bitt dich, brich. Nie so alt. Niemals.“
Sebastian Hartmann erzählt Stücke nie nach, sondern nutzt sie als Assoziationsmaterial zu eigenen inneren Umtrieben. Hier sind es die Sinnfragen nach Tod und Erbe: Was bleibt nach dem Sterben; was gibt man weiter an nachfolgende Generationen; wie gelingt der Abschied vom Leben?
Der mächtige König Lear hat bei Hartmann nicht nur abgedankt, er liegt auf dem Sterbebett. Zwei Krankenliegen werden hereingefahren, darauf Markwart Müller-Elmau und Michael Gerber als senile Greise im Nachthemd. Sie sind nur noch stumme Leerstellen, wo mal ein großer Geist zuhause war. Sie delirieren, sie fantasieren – was um sie herum geschieht, ist nichts als ihr fiebriger Erinnerungsstrom.
Vor ihren verständnislosen Augen spielt das Ensemble in schwarz-weißen Glitzerroben auf, Linda Pöppel übernimmt schroff den Text des Königs, malträtiert die Alten mit Erinnerungsgeschrei, Lear-Texte und Fremdtexte wechseln sich ab. Birgit Unterweger fällt nackt über den dementen Vater im Bett her – die junge Generation hat das Ruder übernommen, aber besser wird die Welt dadurch nicht. Samuel Wiese unterlegt den Abend live mit einem düster-elektronischen, melancholischen Klangteppich.
Doch Hartmanns Versuch, die Urängste, die Todesfurcht freizuschaufeln und zu einem Sterbe- und Einsamkeitstrip zu machen, bleibt trotzdem furchtbar dröge. Von seinem sonst oft gewaltigen Bilderkosmos brennt sich nichts ein. Schwarz-weiß-Projektionen von Wäldern in Flammen und Apokalypse bleiben emotional so fern wie die großen Lebensfragen. Hartmann assoziiert im eigenen Kopfinnenraum, doch der Abend entfaltet nichts Dringliches, Existentielles. Nur zehrende Langeweile, die in den ersten beiden Stunden zu lautstarken Abgängen im Publikum führt.
Bis sich dann Cordelia Wege im hautengen, schwarz funkelnden Abendkleid an den Bühnenrand setzt und bei hell beleuchtetem Saal 35 Minuten lang durch Wolfram Lotz’ Gedicht „Die Politiker“ rast – mit einem Furor, einer Not, einer Trauer und einem Witz, die einem schlagartig den Schlaf aus den Augen treiben. Mit Politikern hat Lotz’ neues Stück wenig zu tun, sie dienen lediglich als Projektionsfläche für unsere eigenen Ängste.
Auch Lotz reiht Erinnerungsfetzen aneinander. Geschrieben ist sein Monolog in musikalischen Kinderreimen, die übermütig hüpfen, sich in Refrains finden. Doch steht diesem Kinderlied immer der Tod und die Einsamkeit vor Augen. Ein Hilferuf aus der Finsternis, in den sich der Autor selbst einschreibt. Ein hoch poetischer Text, voll irrer Komik, den man beim ersten Hören nur ansatzweise greifen kann: „Die Politiker schrizzlen und wizzlen / Könnt ihr sie denn nicht hizzlen?“ heißt es da. Aber auch:„Ein Ding stürzt in die Schlucht und geht dort kaputt“. Und: „Die Politiker stolpern über Dinge / die herumstehen in der Ewigkeit.“ Dann wieder das Ich: „Ich bin ein Müll / der im Weltraum treibt / Ich bin der Spast aus dem Wald“.
Atemlos, drängend, verzweifelnd lässt Cordelia Wege die Worte ihren Ringelreigen tanzen. Und endlich setzt sich das Windrad in Bewegung, seine Arme leuchten gelb und rot. Vielleicht geht das Leben ja doch weiter. Ein ergreifendes Finale, für das man leider zwei zähe Stunden ausharren muss.